13. Jahrgang | Nummer 1 | 18. Januar 2010

Des Kitsches Gipfel

von Uri Avnery, Tel Aviv

Es wäre der Inbegriff politischen Kitsches gewesen. Benyamin Netanyahu und zehn seiner Minister sollten eine gemeinsame Kabinettsitzung mit Angela Merkel und zehn ihrer Minister aus ihrem deutschen Kabinett halten. Wofür? Um Deutschlands Liebe zu Israel zu demonstrieren. Im letzten Augenblick meldete Netanyahu, er sei krank; das Treffen wurde gestrichen. Ich nehme an, daß Netanyahu darüber nicht sehr traurig war. Wozu brauchte er dies? Die israelische Regierung erhält sowieso alles aus Deutschland, was sie sich wünscht.

Ein deutscher Journalist fragte mich, wie man in Israel auf den Besuch des neuen Außenministers Guido Westerwelle reagiert habe. Ich mußte ihn enttäuschen. Die meisten Israelis haben noch nicht einmal von ihm gehört. Noch ein deutscher Würdenträger hat Blumen in Yad Vashem hingelegt, noch ein Verkehrsstau in Jerusalem, noch ein … .

Von Zeit zu Zeit muß das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel neu überdacht werden. Die Deutschen vergessen den Holocaust nicht. Sie sind ständig mit diesem Thema beschäftigt. So soll es auch sein. Dieses monströse Verbrechen darf nicht aus ihrem Gedächtnis verdrängt werden. Junge Deutsche müssen sich immer wieder fragen, wie es möglich war, daß ihre Großväter und -mütter bei diesen unglaublichen Untaten Helfershelfer sein konnten – diejenigen, die direkt daran teilnahmen, und diejenigen, die still zustimmten und jene, die aus Furcht oder Gleichgültigkeit schwiegen.

Die deutsche Regierung – die jetzige und alle ihre Vorgänger – zogen aus dem Holocaust eine eindeutige Schlußfolgerung: Israel, „der Staat der Opfer“, muß verwöhnt werden. Alle seine Taten müssen ohne Vorbehalte unterstützt werden. Kein einziges Wort der Kritik ist erlaubt. Als die neue deutsche Republik gegründet wurde, war das eine kalkulierte Politik. Der schreckliche Krieg, der von Adolf Hitler über die Menschheit gebracht worden war, war gerade beendet worden. Die Naziverbrechen waren noch ganz frisch im Gedächtnis der Menschen. Deutschland war ein Pariastaat. Konrad Adenauer entschied, daß allein massive Unterstützung für Israel (zusätzlich zu den Wiedergutmachungsgeldern für die individuellen Opfer) die Tore der Welt öffnen würden.

Er fand in seinem israelischen Kollegen einen loyalen Partner: David Ben Gurion. Der glaubte, daß die Konsolidierung des Staates Israel wichtiger sei als das Gedenken an die Vergangenheit. Er stellte dem „anderen Deutschland“ eine „Koscher-Bescheinigung“aus als Gegenleistung für massive deutsche Hilfe an Israel. – Seit dieser Zeit ist viel Wasser den Rhein und den Jordan heruntergeflossen. Nun sollten einige Fragen gestellt werden.

Frage 1: Während die deutsche Freundschaft mit uns ein moralischer Imperativ ist, schließt dies notwendigerweise auch unmoralische Aktionen mit ein?

Mehr als einmal hörte ich den Satz: „Nach den schrecklichen vom deutschen Volk gegenüber dem jüdischen Volk begangenen Verbrechen, haben wir Deutschen kein Recht, den jüdischen Staat zu kritisieren. Die Söhne der Täter können nicht die Söhne der Opfer kritisieren!“ Ich habe es schon früher gesagt: In diesen Sätzen liegt etwas, das mich sehr stört. Irgendwie erinnern sie mich an das deutsche Wort „Sonderbehandlung“ , das schreckliche Assoziationen weckt. Die Haltung der deutschen Regierung gegenüber Israel ist eine Sonderbehandlung. Es sagt wieder: Die Juden sind etwas Besonderes. Der „jüdische Staat“ muß anders behandelt werden als andere Staaten. Das heißt, Juden sind anders als andere Völker, ihr Staat ist anders als andere Staaten, ihre Moral ist anders als die der anderen.

Eine deutsche Zuhörerschaft amüsierte sich, als ich kürzlich von einer Demonstration von Kommunisten in New York erzählte. Die Polizei kam und begann, die Demonstranten zu verprügeln. Einer schrie: „Schlagt mich nicht! Ich bin doch ein Anti-Kommunist!“ Ein Polizist antwortete ihm: „Ich bin nicht daran interessiert, welche Art von Kommunist du bist.“ Extreme Philosemiten erinnern mich an extreme Antisemiten. Sonderbehandlung? Nein danke! Das war nicht unsere Absicht, als wir diesen Staat gründeten. Wir wollten einen Staat wie alle anderen, eine Nation wie alle anderen.

Frage 2: Was bedeutet Freundschaft wirklich?

Wenn dein Freund betrunken ist und darauf besteht, mit seinem Wagen nach Hause zu fahren – sollte er dazu ermutigt werden? Ist das ein Ausdruck von Freundschaft? Viele Deutsche wissen, daß unsere augenblickliche Politik für unser Land und die ganze Welt eine Katastrophe ist. Sie führt zu einem permanenten Krieg, stärkt die Macht des radikalen fundamentalistischen Islam in der ganzen Region, führt zur Isolierung Israels in der Welt und zu einem Besatzungsstaat, in der Juden zu einer unterdrückerischen tyrannischen Minderheit werden.

Wenn dein betrunkener Freund direkt in einen Abgrund fährt – was bist du dem Freund schuldig?

Frage 3: Freundschaft gegenüber Israel – aber gegenüber welchem Israel?

Israel ist weit davon entfernt, eine monolithische Gesellschaft zu sein. Es ist eine pulsierende, dynamische, brodelnde Gesellschaft mit vielen Tendenzen: von der extremen Rechten bis zur extremen Linken. Im Augenblick haben wir eine Regierung der extremen Rechten – aber es gibt auch ein Friedenslager. Es gibt zwar Soldaten, die sich weigern, Siedlungen abzubauen, aber es gibt auch Soldaten, die sich weigern, eine Siedlung zu bewachen. Nicht wenige Menschen widmen ihre Zeit und Kraft, um gegen die Besatzung zu kämpfen, manchmal begeben sie sich dabei sogar in Lebensgefahr.

Natürlich muß eine Regierung mit Regierungen verhandeln. Die deutsche Regierung muß mit der israelischen Regierung verhandeln. Aber von da bis zum kitschigen Verhalten wie einer gemeinsamen Kabinettssitzung ist ein großer Schritt.

Die Netanyahu Regierung hat für das Zwei-Staaten-Prinzip nur ein Lippenbekenntnis abgegeben und verletzt es täglich. Sie hat ein völliges Einfrieren des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten zurückgewiesen – genau in den Gebieten, in denen alle Regierungen (auch die deutsche) den Staat Palästina sehen wollen. Sie baut wie wahnsinnig in Ost-Jerusalem, das auch nach der deutschen Regierung die Hauptstadt Palästinas werden soll. Sie führt in Jerusalem etwas aus, das sehr nah an ethnische Säuberung herankommt. Sollte Frau Merkel diese Regierung umarmen und küssen?

Die Schweiz hat in einem Volksentscheid entschieden, daß keine Minarette gebaut werden dürfen. Das ist nicht gut. Es ist nicht schlecht. Das ist widerlich.

Antisemitismus scheint vom einen zum anderen semitischen Volk übergegangen zu sein. Im Europa nach dem Holocaust ist es schwierig, antijüdisch zu sein, so wurden die Antisemiten Anti-Muslime. Im Hebräischen sagen wir: dieselbe Dame – nur in einem anderen Gewand.

Vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen, ist es eine dumme Entscheidung. In jeder Anthologie der schönsten Gebäude der Welt nimmt die islamische Architektur einen Ehrenplatz ein. Von der Alhambra in Granada bis zum Felsendom in Jerusalem, – geschweige denn zum Taj Mahal – erregen Hunderte von islamischen Bauten Bewunderung. Ein oder zwei Minarette würden in der städtischen Landschaft Berns Wunder tun.

Aber es geht hier nicht um Architektur, eher um einen primitiven, brutalen Rassismus, dem die Deutschen gerade entkommen sind. Auch die Schweizer haben viel zu sühnen. Ihre Großväter und -mütter benahmen sich während des Holocausts auch schändlich, als sie erklärten, „das Boot sei voll“ und Juden, denen es gelungen war, bis an die Schweizer Grenze zu gelangen, zu den Nazihenkern zurückschickten. (Diese Erinnerung sollte uns Israelis veranlassen, gegen das Verhalten unserer eigenen Regierung gegenüber den sudanesischen Flüchtlingen zu protestieren, denen es gelingt, von Ägypten aus unsere Grenze zu erreichen. Sie schickt sie zu den Ägyptern zurück, die sie dann bei mehr als einer Gelegenheit erschossen haben.)

Übrigens sollte das Schweizer Referendum jenen zu denken geben, die versucht sind, anzunehmen, daß das System des Referendums besser als das parlamentarisches System günstig sei. Ein Referendum öffnet Tür und Tor für die schlimmsten Demagogen, die Schüler Joseph Goebbels, der einmal schrieb: „Wir müssen uns wieder an die primitivsten Instinkte der Massen wenden.“

Jean Paul Sartre sagte einmal, wir seien alle Rassisten. Es gibt nur den Unterschied zwischen denen, die dies erkennen und gegen ihren Rassismus ankämpfen, und jenen, die ihm nachgeben. Die Mehrheit der Schweizer – so leid es mir tut, dies sagen zu müssen – haben diesen Test nicht bestanden. – Und wie ist es mit uns?

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; von der Redaktion gekürzt