Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 28. September 2009, Heft 20

Über die Unkräuter

von Renate Hoffmann

Für E.A.Z.
Am Anfang steht die Definition! Nicht das Wort, wie die Bibel glauben machen möchte. »Unkraut«, so erläutert der Konversations-Meyer aus dem Jahre 1896, »sind Pflanzen, welche entgegen dem Kulturzweck zwischen angebauten Pflanzen erscheinen und im allgemeinen nur als schädlich in Betracht kommen, zum Teil aber nutzbar sind, ja sogar für sich angebaut werden. Wie denn auch manche Kulturpflanzen, wenn sie am unrichtigen Ort erscheinen, zu den Unkräutern gezählt werden müssen.« Man erkennt auf den ersten Blick die Zweideutigkeit der Aussage. Womöglich läßt sich der schwierige Umstand ohnehin nur philosophisch klären.
In der Zwischenzeit denkelte man fortwährend an dem Problem herum und kam zu der Ansicht, daß ein Kraut zum Unkraut wird, wenn es an seinem Standort »unerwünscht« sei. Auch sei die Auslegung abhängig vom subjektiven Empfinden des Menschen. Der nämlich könne eine blühende Löwenzahnwiese im Mai durchaus als ästhetischen Genuß einstufen, während dieselbe Pflanze, als Einzelerscheinung im eigenen Garten, bei ihm heftigen Widerwillen auslösen würde.
Es stellt sich demnach heraus, daß die Verunglimpfung mancher Gewächse als Unkraut schlichtweg falsch ist. Sind sie doch fähig, zugleich heilende oder nützliche oder anderweitig geschätzte Eigenschaften zu entfalten trotz ihres unbeliebten Charakters. Sie pendeln sozusagen zwischen Gut und Böse. Das trifft jedoch auch für diese und jene Kulturpflanze zu, wie bereits von Meyern angedeutet wurde.
Bestes Beispiel ist die, jedermann als Edelobst bekannte, Himbeere. Der Gärtner-Poet Karel Capek führt überzeugend den Beweis. Wenn er etwas zu sagen hätte, würde er das »Himbeer-Edikt« erlassen, welches »jedem Gärtner, bei Strafe des Abhackens der rechten Hand, verbietet, Himbeeren längs des Zaunes zu pflanzen«. Man möge doch bitte bedenken, welchen Tort man dem Nachbarn antue, wenn plötzlich zwischen dessen Rhododendren die unverwüstlichen Triebe der Himbeersträucher von nebenan auftauchen. »So ein Himbeerstrauch«, fährt Capek fort, »kriecht meterweit unter der Erde; kein Zaun, kein Graben … ja nicht einmal eine Warnungstafel vermögen ihn aufzuhalten. Dann wächst das Zeug mitten in euren Nelken oder Nachtkerzen, und ihr seid machtlos.«
Diese Machtlosigkeit gegen die Vermehrungsfreude »unerwünschter« Pflanzen ist ein weiteres Merkmal ihrer Verketzerung. Aber was sollen sie denn machen, wenn sie ständig und überall herausgerissen, chemisch vertilgt, untergepflügt werden? Sie müssen sich wehren. Durch erhöhte Samenproduktion, Bildung ausufernder Wurzelgeflechte und Widerstandskraft. Es gelingt ihnen mit Bravour. Charles Darwin entnahm eine Bodenprobe, die kaum eine Kaffeetasse füllte (er hatte nichts anderes bei der Hand) und erzielte daraus 537 unerwünschte Keimlinge. Eine großartige Leistung!
Auf besonders gefährdetem Terrain hinsichtlich ihrer Ausrottung (Getreide- und Hackfruchtanbau) bilden die geschmähten Kräuter sogenannte Ackerunkrautgesellschaften. Einigkeit macht stark. Erstaunlicherweise gehören dazu auch Klatschmohn, Kornblume, Wicke, Acker-Stiefmütterchen und Kleiner Storchschnabel. Wer hätte das gedacht? Diese betrübliche Mitteilung gab das Fachgebiet »Unkrautkunde« heraus, welches sich inzwischen als eigenständige wissenschaftliche Disziplin unter der Bezeichnung »Herbologie« etablierte und endlich in dem Durcheinander für Ordnung sorgt. Lobenswert ist das Bemühen um eine angemessene Benennung der als »störend« empfundenen Flora. Sie reicht von »Wildkraut, Beikraut, Begleitwuchs bis zu Kulturpflanzenbegleiter«, Letzteres gefällt mir am besten.
Während ich meine Gedanken über den Kulturpflanzenbegleitwuchs niederschreibe, sitze ich im Garten. Es fällt mir auf, daß der wuchernde Hahnenfuß in der Grasnarbe aparte, zierliche Blattformen bildet; daß Giersch, den ich sonst in Büscheln aus dem Boden zog, sich stolz über das blaublühende Immergrün erhebt und auf diese Art die Extravaganz beider erst sichtbar macht. Schöllkraut lächelt mit verschmitztem Gelb aus der Trockenmauer, und der eitle Löwenzahn reckt in der Rosenrabatte seine zarten Samenköpfchen gleich einem Strahlenwunder. Ein leichter Windstoß und der Zauber entschwindet. Er segelt, in tausend-und-ein Schirmehen zerstoben, durch die Lüfte. Und was wäre letztlich die Wiese hinterm Haus ohne die Gänseblumen? Nichts als tristes, gesichtsloses Grün.
Unkraut vergeht nicht, welches Glück.