Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Der Rote Horizont

von Bernhard Spring

Der Rote Horizont befindet sich in der Kleinen Ulrichstraße, und schon allein dieser Umstand spricht gegen einen Besuch dieser Cafébar, denn über den gesamten Straßenzugverteilt treffen sich hier die versnobten Hallenser, von der naturversessenen Okö-Studentin über den unentdeckten Nachwuchsdichter bis hin zu den furchtbaren Leuten, die keine bedeutendere Eigenart vorweisen können als die Kombination von Cappuccino und Zitronenkuchen, die sie vor sich stehen haben – Leute, die trotzdem den eisernen Willen haben, irgendwo in den zahlreichen Cafés dieser Straße dazuzugehören. Denn wo sonst sitzen die halbwegs Prominenten, wo kursiert der neueste Klatsch emsiger, und wo geht es mehr um Sehen und Gesehenwerden als in dieser kleinen Straße?
Und was tut sich so im Roten Horizont? Das Ambiente ist einer schlechten Ostseepromenade entlehnt, die Kellner haben die Angewohnheit, sehr viel Geschirr fallen zu lassen. Ansonsten gibt es hier nichts besonderes, warum auch? Keiner besucht den Roten Horizont, um sich die dutzend Arten von Trinkschokolade oder den abgestandenen Kuchen schmecken zu lassen. Keiner will die auf indisch-antik getrimmten Teekannen kaufen, für sechzig bis achtzig Euro das Stück. Nein.
Der Rote Horizont wird vor allem aufgesucht, um sich zuzuordnen. Die Leute mit dem völlig ramponierten Selbstwertgefühl hocken stundenlang draußen unter den Markisen an der einen Tasse Latte Macchiato und hoffen, daß wenigstens einer der oberflächlich Bekannten zufällig durch die Straße geht, damit sie ihm übereifrig und möglichst für alle sichtbar zuwinken und vielleicht noch den kecken Spruch, an dem sie die ganze Zeit über gefeilt haben, zurufen können. Dann sind sie befriedigt, und der Nachmittag hat sich gelohnt. Wenn aber der Abend einbricht, ohne daß irgendjemand vorbeigekommen ist, den sie wenigstens vom Namen her kannten, dann sind sie down und schleppen sich nach Hause, um am nächsten Tag erneut ihr Glück zu versuchen im Roten Horizont, diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Die Leute, die mehr auf sich halten und auf die kaputten Markisenhocker herabsehen, sitzen im Cafe auf billigen Klappstühlen, völlig nichtssagend und austauschbar sowohl das Mobiliar als auch die Gesichter. Sie rühren ihre arabischen Tees und Chilischokoladen um und blicken den Kellnern nach, die sie »süß« und »schnuckelig« finden, und von denen sie sich einbilden, die seien in genau diese Gäste verschossen. Dem ist natürlich nicht so, aber diese Leute sind besonders einfältig und brauchen halt die Bestätigung, einem Kellner wenigstens eine imaginäre Abfuhr zu erteilen. Ansonsten schielen sie mit Argusaugen durch das Cafe und suchen nach den Prominenten, die sie aus der Zeitung oder aus dem Theater kennen. Diese Leute sind im höchsten Maße klatschsüchtig und definieren sich über ihr völlig unnützes Wissen. Stimmt es, daß sich die Bürgermeisterin in der Sauna die Fußnägel geschnitten hat? Und hat der Fotograf Peru John wirklich eine Freundin, die halb so alt wie er ist? Apropos; Marie Bretschneider ist mit Peter W. Bachmann zusammen, sie spielen derzeit zusammen in dem Stück von Max Frisch …
Inmitten dieser Leute, die nur für den Privatkram anderer leben, sitzen immer wieder angehende Künstler, die ganz anders als alles bisher Vorhandene sein wollen. Da ist der Kunststudent von der Burg Giebichenstein, die nervöse Musikerin mit dem Hang zum Spagat und selbstverständlich der Dichter, der betont den Kafka-Band, in dem er nur scheinbar liest, so hält, daß jeder das Cover lesen und staunen kann. Deren Anwesenheit bettelt regelrecht nach Aufmerksamkeit und Anschluß. Sie suchen nach Entdeckung und glauben, in einem Cafe wie dem Roten Horizont ihren künftigen Mentor finden zu können, der sie zum Durchbruch führen wird und wer weiß noch wohin? Zu einer Ausstellung in der Villa Kobe, zu einem Auftritt in der Händelhalle oder gar zu einem Vertrag mit dem Mitteldeutschen Verlag? Arme Irre!
Und schließlich gibt es im Roten Horizont noch die Leute, um die sich der ganze Zirkus dreht: Auf ausrangierten Eisenbahnbänken sitzen in der Mitte des Raumes, auf einer kleinen Empore, die Schauspieler, die Regisseure, Schreiberlinge und Lokalpolitiker. Natürlich kennen sie sich untereinander und sind in intensive Gespräche vertieft oder lesen rauchend die Zürcher Nachrichten, die Süddeutsche und den Spiegel und sind überhaupt wahnsinnig intellektuell und absolut cool. Von ihrem Umfeld nehmen sie bewußt nichts wahr als den kleinen Kellner, der die Ehre hat, Chefdramaturg Ralf Meyer das zweite »Ding« zu servieren und der selbstverständlich weiß, was für Meyer ein »Ding« ist.
Es ist schlicht falsch anzunehmen, diese Leute seien sich selbst genug, denn es scheint nur so, daß sie kein Interesse an den ganzen potentiellen Speichelleckern haben, die um sie herum sitzen und sie mit verstohlenen Blicken beobachten. In Wahrheit brauchen diese Klein-Prominenten den Rummel um ihre Person, sie sind nach ihm süchtig, und so nehmen sie hin und wieder einen dieser Nachwuchskünstler für eine Weile in ihrem Kreis auf, spendieren Kaffees und Theaterkarten und geben vor, ihre Gedichtchen gelesen zu haben. Aber viel wichtiger ist ihnen die uneingeschränkte Zustimmung, die der Nachwuchs ihnen entgegenbringt und in dem sie sich ausgiebig sonnen. Manchmal, wenn genug Alkohol geflossen ist und es auf Mitternacht zugeht, ist auch fir die körperlichen Bedürfnisse des Schauspielers oder des Politikers etwas drin, und beseelt kann er nach dem Abstecher in irgendeine Studentenwohnung nach Hause gehen und sich auf seinen nächsten Besuch in dem Roten Horizont freuen.
Aber beginnen hier wirklich Karrieren? Nein, hier fangen nicht einmal Affären an, denn alles, was dieses Café zu bieten hat, ist eine Bühne und jeder hat die Möglichkeit, sich zu positionieren, aber nicht, aufzurücken oder zu fallen. Darüber entscheiden Zeitungen, Stadtmagazine, Theatererfolge und Wahlergebnisse. Bekanntheit ist das Schlüsselwort. Nur wer von anderen wiedererkannt werden kann, darf sich auf die Eisenbahnbänke setzen und die Phantasie der anderen beflügeln, wobei er inständig hoffen muß, nicht als letztlich sterblicher Mensch entlarvt zu werden.
Und so sitzen die Leute im Roten Horizont wie auf sozialen Hühnerstangen und glucken dumm herum. Manchmal brausen aufheulende Autos vorbei, und neidische Blicke folgen dem Cabrio und dessen gegeltem Fahrer. Und manchmal treffen sich die Blicke der Leute vom Roten Horizont mit denen der Leute vom Kaffeeschuppen gleich gegenüber, und das irritiert sie alle sehr, denn in diesen Momenten wissen sie nicht, wer wen zu bewundern hat. Deshalb schauen sie schnell woandershin, schlürfen betont elegant ihren Cappuccino und versichern sich mit einem Blick nach hinten, daß in ihrem Cafe gegenwärtig die wichtigere Prominenz sitzt und doch nur scheinbar nichts von ihnen wissen will.