Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Ermattungskrieg

von Erhard Crome

Der Satz: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten«, macht immer mal wieder die Runde. Viele halten ihn für plausibel und gehen nicht wählen. Dann bekommen sie unter Garantie das, was sie nicht gewollt haben. Doch was bekommen wir – Wähler und Nichtwähler – denn wirklich?
Der Afghanistankrieg zum Beispiel wird seit Jahren gegen den Willen der Mehrheit der Menschen geführt, aber dennoch weitergeführt. Die Italiener wollen ihn nicht, aber die Herrschenden tönen weiter, der Rückzug wäre eine »militärische Niederlage des Westens«, die seine »Glaubwürdigkeit schwer erschüttern« würde. Welche ist gemeint? Die bei den afghanischen Kämpfern nicht und die bei der eigenen Bevölkerung wohl auch nicht. Die Schweden sind nach dem kürzlichen Tod dreier schwedischer Soldaten noch skeptischer als zuvor, doch Außenminister Bildt meint, der Abzug würde diejenigen im Stich lassen, die dort einen »Rechtsstaat« aufbauen würden. Waren die Zeitungen nicht eben voll von Meldungen über die Korruption der Karsai-Regierung? Das ist der Rechtsstaat? Die Finnen sind ebenfalls am Militäreinsatz beteiligt, im Rahmen des UNO-Einsatzes im Norden Afghanistans, doch die NATO-Mitgliedschaft hat die bürgerliche Regierung wieder von der Tagesordnung genommen. Es gibt keine Stimmung dafür.
Hindukusch-Struck befindet sich in bester Gesellschaft, wenn er entgegen der Grundeinstellung der Bevölkerung nach wie vor meint, der Afghanistaneinsatz sei eine richtige Sache und könne noch zehn Jahre dauern (»Berliner Zeitung«, 5. August 2009). Gleichzeitig schreiben die Zeitungen, die SPD befinde sich im »freien Fall«. So schlechte Umfrageergebnisse hatte sie noch nie in der Nachkriegszeit. Und zugleich jammern deren Strategen noch immer, daran seien vor allem die Wähler schuld, weil sie nicht begriffen hätten, was für eine segensreiche Politik die SPD mache – das sehen die Leute am Hindukusch wie bei Hartz IV. Sie wählen so, wie sie wählen, oder wählen eben nicht, weil sie das sehr genau begriffen haben.
Auf die Frage, ob Steinmeier und Müntefering – Schröders wichtigste Helfer bei der Agenda 2010 – denn jetzt nicht »die falschen Leute an der Spitze« seien, sagt Struck: »Es gab ja keine Alternative.« Er sagt weiter: »zu dieser Politik«, hätte aber auch gesagt haben können: »zu diesen Leuten«. Das von Steinmeier vorgewiesene Kompetenzteam ist zwar groß, aber außer den beiden Genannten hatte die SPD wohl keine anderen Gesichter für die erste Reihe. Müntefering pfeift im Walde und sagt, vor vier Jahren um die Sommerszeit sei in den Umfragen seine Partei auch nicht viel besser gewesen als jetzt, und hätte es dann »fast« geschafft. Da wird zweierlei vergessen: Damals hatten sie Schröder – und nicht dessen Aktendeckelverwalter – und der hatte den Kanzlerbonus. Den hat jetzt Angela Merkel. Und die sonnt sich derzeit in Umfrageergebnissen, nach denen sie zusammen mit Guido Westerwelle fortan regieren zu können glaubt.
Warum aber wählen die Leute nicht links, angesichts von Afghanistankrieg, Hartz IV und Wirtschaftskrise? Wahlkämpfe und Parteienkämpfe sind politische Kämpfe; sofern sie mit sozialen Kämpfen verschränkt sind, kann man sie auch nach den Regeln der Kriegsführung betrachten. Hans Delbrück, der wohl wichtigste »zivile« deutsche Militärhistoriker am Beginn des 20. Jahrhunderts, machte in seiner »Geschichte der Kriegskunst« auf den wichtigen Unterschied zwischen einer »Niederwerfungsstrategie« und einer »Ermattungsstrategie« aufmerksam. Vielleicht sollte man die ganze Auseinandersetzung der alten Sozialdemokratie beziehungsweise Linken um »Reform« oder »Revolution « als eine zwischen »Niederwerfungs-« und »Ermattungsstrategen« lesen. Typisch für das normale Parlaments- und Wahlgeschehen ist jedoch das Vorgehen im Ermattungsgeschehen. Man kann auch von Bewegungskrieg und Stellungskrieg reden.
Insofern waren Obamas »Yes-we-can«-Kampagne oder Schröders erster Kanzler-Wahlkampf, dem alten Kohl 1998 die Kanzlerschaft zu entwinden, die in der jüngeren Politik eher seltenen Fälle von Bewegungskrieg und Niederwerfungsstrategie, die von Erfolg gekrönt waren. Elemente davon hatte auch der Durchmarsch der LINKEN in den Bundestag 2005. Schröder hatte mit »Agenda 2010« und Hartz IV die eigenen Linien durcheinandergebracht und war unter doppelten Beschuß geraten: Die Bürgerlichen wollten mehr davon, die Linken dies weg. Hier erschien die Linke als neue Formation; sie entstand als Formation des Angriffs auf die Bastionen oder Verteidigungslinien des Neoliberalismus.
In den nun angebrochenen Zeiten der Weltwirtschaftskrise sind dessen Heerscharen geschickt zur Verteidigung übergegangen. Die Bundesregierung simuliert den Angriff. Dabei wird in bezug auf die Linken erfolgreich der Eindruck erweckt: »Wir brauchen die nicht!« Und Wirtschaftskrise heißt, alle verteidigen etwas: die Spekulanten ihre papiernen Titel, die Unternehmer ihre Unternehmen, die Arbeiter ihre Arbeitsplätze, die Kleinsparer ihr Erspartes. In diesem Stellungskrieg ist kein Platz für weitreichende Bewegungsoperationen. Das heißt, sich jetzt klug auf die Anforderungen dieses Stellungskrieges einzustellen.
Jähe Wendungen sind natürlich möglich. Über »Focus-Online« kommt man über einen Link zum Angebot eines »Finanzmarktanalytikers«, der mitteilt, die bisherige Finanzkrise habe fünfzig Billionen Dollar vernichtet. Im Herbst dieses Jahres aber werde der »Monster-Crash«, die ungleich größere Finanzknse kommen, in der der jetzt noch bestehende Markt der »Derivate«, die durch nichts gedeckt sind, zusammenbricht. Das seien dann über 680 Billionen Dollar, die vernichtet werden und alles mit in den Abgrund reißen.
Aller Voraussicht nach haben wir dann aber bereits gewählt – und die Regierung, die wir haben. Und wenn dann diese Regierung ganz offen die Interessen der Spekulanten und Kapitaleigner gegen die der Arbeitenden und Kleinsparer stellt, rückt eine neue Bewegung auf die Tagesordnung.