Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 3. August 2009, Heft 16

Ein Stapel Geschichte(n)

von Erhard Weinholz

Man kann Briefmarken sammeln, Münzen, Bücher, Bierdeckel, also einigermaßen klar definierte Dinge. Man kann aber auch sammeln, was einem das Leben so zuträgt. Man muß das nicht einmal bewußt tun. Es genügt, nichts wegzuwerfen und, das ist wichtig, alles auf einen Stapel zu tun. In solch einem Stapel in meinem Vertiko findet sich zum Beispiel zuunterst mein Studienbuch mit Eintragungen aus den Jahren 1969 bis 1974. Ein Zettel liegt darin: »Referat ausgezeichnet. Glückwunsch. 28.6.1972 R.« R. war Holländer, aus irgendwelchen Gründen in die DDR gekommen und gab bei uns an der Sektion Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Uni »Kapital«-Seminare. Wir mochten ihn ob seiner lockeren, unkonventionellen Art (R. war das Initial seines Vornamens). Mir empfahl er als weiterführende Lektüre Rosdolskys »Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapitals‹«, irgendwo im Westen erschienen. Unser Pol.-Ök.-Soz.-Professor, dem ich davon erzählte‚ erklärte mir, Rosdolsky sei ein Renegat. Das gab mir zu denken, ich hatte den Professor bis dahin für einen halbwegs unabhängigen Geist gehalten. In den frühen Neunzigern stellte sich heraus, daß R. als IM gearbeitet hatte, und er wurde entlassen.
Es folgen (unter anderem): eine Karte vom August 1977. Der VEB Dienstleistungs- und Grundstücksvermittlung teilt mir mit, auf meine Annonce (»Su. Zimmer …«) sei keine Zuschrift eingegangen. Ich arbeitete damals schon an der Akademie der Wissenschaften, wohnte aber noch im Studentenwohnheim, das ich jedoch zu räumen hatte, ohne daß die Akademie mich mit Wohnraum versorgen konnte. Eine mißliche Situation, der auch per Annonce nicht zu entkommen war. Ebensogut hätte ich inserieren können: »Su. Spargel und Räucheraal, gern auch größere Mengen«.
Noch eine Karte vom Sommer 1977, eine Mahnung der Uni-Bibliothek: E. A. Preobrashenskijs »Novaja ekonomika« werde dringend von anderer Seite verlangt, man bitte um Rückgabe. Preobrashenskij war Trotzkist gewesen, für mich ein Grund, ihn zu lesen. Erstaunlich war, daß das Buch nicht im Giftschrank gestanden hatte – Trotzkist zu sein galt ja damals als Gipfel der Scheußlichkeit. Anscheinend hatte hier wieder einmal die bibliothekarische Wachsamkeit versagt (im Gewi-Lesesaal der Staatsbibliothek konnte man sogar die vom Sozialistischen Büro Offenbach herausgegebene Zeitschrift »links« lesen, die erheblich staatsgefährdender war als der alte Preobrashenskij).
Zwölf Blätter eines Abreißkalenders von 1978, auf der Rückseite immer ein Gedicht, wenn man es so nennen will, von Eberhard Ehlert. »Wir steigen höher. / Der Schornstein wird bald besser rauchen. / Der Acker wird bald besser tragen. / … Das neue Leben wird bald schöner – / Und unser aller Bund wird immer fester.« Dergleichen gab es an diesem Ort Jahr für Jahr, Ehlert war anscheinend der Liebling der DDR-Kalendermacher. Biographisches ist mir nicht bekannt, vielleicht handelte es sich um ein Pseudonym Uwe Bergers.
Zwei kleine farbige Etiketts: »Dried Banana. Getrocknete Bananen«, exportiert von Vegetexco, Vietnam. Es war wirklich nicht alles schlecht in der DDR. Richtige Bananen gab es übrigens auch. Auf einem Kaufhallenfoto von Bernd Heyden sieht man sie, und der kleine Obst- und Gemüseladen bei uns in der Schwedter, Ecke Oderberger hatte gelegentlich auch welche. Ich erinnere mich noch, wie eine vom nahen Parkplatz gekommene Frau mit dem Schrei (es war wirklich ein Schrei) »Baul, s jibt Boanoan!« zu ihrer Reisegruppe zurückeilte. Ich selber habe mir nie welche gekauft, aus Prinzip: Sie waren mir zu teuer, außerdem fand ich diesen Bananen-, überhaupt den ganzen Westkult würdelos. Westpäckchen ausgepackt habe ich trotzdem gern.
Eine Karte vom Postzeitungsvertrieb mit Datum vom 12. Oktober 1978: Die von mir reklamierten Nummern der Zeitschrift »Tricontinental« seien noch nicht geliefert worden. Das Blatt erschien in Havanna, befaßte sich mit den Entwicklungen im Trikont und langte nur sehr unregelmäßig bei mir an. Gelesen habe ich es nie, mein Englisch war zu schlecht. Aber allein schon in den graphisch gut gemachten Heften zu blättern vermittelte mir das prickelnde Gefühl, am revolutionären Weltprozeß teilzuhaben und dabei ein Stück neben der offiziellen Linie zu liegen.
Ein Zettel A5 mit einer ZK- und Politbüro-Analyse aus dem Jahre 1981, dem Jahr des X. Parteitags der SED. Ich hatte wissen wollen, aus welchen Bereichen der Gesellschaft die ZK-Mitglieder stammten: Am stärksten vertreten war der Parteiapparat – über das ZK regierte er sich also selbst (allerdings hatte es zu der Zeit schon längst nichts mehr zu sagen). Die Politbüromitglieder waren im Durchschnitt 62 Jahre alt, die Kandidaten etwa zehn Jahre jünger. Aufgefallen war mir auch, daß es in dem Gremium zwei unterschiedliche Generationen gab: Die einen waren schon vor 1933 politisch aktiv geworden, die anderen wurden es erst nach 1945. Daraus hätte sich mentalitätsgeschichtlich manches ableiten lassen, aber so weit war ich damals noch nicht.
Ein kleines Heft mit grünem Umschlag: mein Ausweis für Gruppenleiterhelfer in der Ferienbetreuung. 1978, 1979 und 1980 war ich so tätig geworden. Beim letzten Mal hatte ich Vera Lengsfeld kennengelernt und sie wiederum ihren nachmaligen Ehemann Knut. Vera war eine sympathische Frau, mit der man gut reden konnte. Privat ist sie das eine ganze Weile noch geblieben. Problematisch wurde es, wenn sie in der Öffentlichkeit (etwa der des Pankower Friedenskreises) auftrat. Dann hatte sie oft so etwas Schrilles, Forderndes an sich, das manchem auf die Nerven ging. Aber das war erst später.
Ein kleiner roter Zettel: meine Wahlbenachrichtigung vom Mai 1989. Statt ins Wahllokal zu gehen, hatte ich mit Freunden eine Radtour unternommen, Motto »Wir wählen das Grüne«. Das ließen wir aber nicht laut werden. Schließlich wollten wir uns keinen Ärger einhandeln.
Später bildeten sich bei mir noch allerlei andere Stapel Papier, die dann in Mappen wie »Linke Debatte« oder »Vereinigte Linke« kamen; aber in diesem hier habe ich stets am liebsten gestöbert.