Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 6. Juli 2009, Heft 14

Linke Zahlenmystik

von Günter Hayn

Kandidierende Politiker beschwören vor einer Wahl gerne die Bedeutung des bevorstehenden Urnenganges für das Wohl und Wehe der eigenen Partei, die Zukunft der Uckermark, Brandenburgs, Deutschlands – ja, des Universums. Nach der Wahl wird spätestens um 18.15 Uhr relativiert. Niemand habe von Schicksalswahl gesprochen, überhaupt sei das heutige Ergebnis vollkommen atypisch, man müsse die regionalen, temporären sowie die Besonderheiten des Wetters in Rechnung stellen … Kommt es für die Wahlverlierer ganz dicke, gibt man beim preisgünstigsten Politikwissenschaftler des eigenen Herzens eine Analyse »des Wahlergebnisses« (der Begriff »Niederlage« wird von dem Moment an tunlichst vermieden) in Auftrag. Meist stellt der dann fest, es habe wenn auch nicht allein am Wetter, so doch zumindest eventuell an Kommunikationsproblemen gelegen. Die eigene Politik, die eigenen Kandidaten seien nicht gut genug »rübergekommen«. Ein bisse1 verdeckte Wählerschelte gibt es auch noch (»demographische Faktoren«, »Bevölkerungsaustausch«). Das war’s dann meist schon. Und fröhlich geht’s in den nächsten Wahlkampf.
Es lohnt sich genauer hinzuschauen, und was ist geeigneter als die jüngste Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Ich habe mir die Berliner Ergebnisse angesehen, da gab es besonders viele Sieger. Am lautesten siegte die CDU mit 24,3 Prozent der abgegebenen Stimmen. Deren Landeshauptmnann Frank Henkel (bekennender Reserveoffizier und Möchtegern-Drakon) prophezeite sofort das Ende vom ungeliebten Rot-Rot in Berlin binnen kurzem. Er übersah, daß dies nur durch eine Koalition mit den von ihm nicht minder gehaßten Grünen ginge. Entscheidender aber die Grandezza, mit der Henkel den Verlust von 35 834 Stimmen gegenüber der Wahl 2004 ignorierte. Dieselbe Schieläugigkeit bewiesen die Grünen. Wortgewandt tönten sie sich zum »zweiten Sieger« hoch. Satte 0,8 Prozent gewannen sie hinzu, verloren aber absolut 7 617 Stimmen. Die wirkliche Gewinnerin war auch in Berlin die FDP: Die Partei der »Finanzhaie« – so plakatierte bekanntermaßen die SPD – gewann 3,4 Prozent dazu. Absolut waren dies 25 183 Wähler. Daß nicht jeder enttäuschte CDU-Wähler gelb ankreuzt, ist nur ein schwacher Trost. Verloren hat die SPD: 15 341 Stimmen. Aber deren Berliner Spitzenpolitiker räumten mit zerknirschten Gesichtern (wenigstens einer gibt es zu, war man am Wahlabend geneigt zu denken) die »bittere Niederlage« ein. Sie haben übertrieben. Es waren nur 0,4 Prozent Verluste. Wahrscheinlich waren die Tränen aus der Landeszentrale als »Ruck-durch-die-Partei-Aufforderung« mit Blick auf den September für eine steinmeiermüde Basis gedacht.
DIE LINKE konnte in Berlin »eine sehr, sehr gute Steigerung« erzielen. So teilte es Abgeordnetenhaus-fraktionschefin Carola Bluhm noch am Wahlabend dem »Tagesspiegel« mit. Und aus Sicht von Berliner LINKE-Landesvorstandsmitgliedern sei das »von der Parteiführung vorgegebene Ziel« (»10 Prozent plus X«) sowieso übertrieben gewesen. In Krisenzeiten hätten die Bürger nun einmal ihr Sicherheitsbedürfhis vorgezogen. »Da ist es schwierig, mit radikalen Entwürfen zu punkten,« so Carola Bluhm. Das war der inzwischen obligatorische Hieb auf Oskar Lafontaine, verbunden mit der Botschaft, daß die LINKE nur in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität für ihre sozialistischen Ziele Mehrheiten gewinnen könne. Das ist zumindest ein neuer Beitrag in linker Theoriebildung. Dazu paßt, daß die erwähnte »sehr, sehr gute Steigerung« (0,3 Prozent) absolut einen Verlust von 6 054 Stimmen bedeutet. Immerhin hat die LINKE ihren West-Berliner Anteil von 3,5 auf 5,6 Prozent steigern können. Das ist ein Plus von 10 156 Stimmen. Man mag dies als Stabilisierung ansehen, angesichts des von allen in der Folge der Parteineugründung erwarteten Zulaufes ist es keiner. Erfolg sieht anders aus. Lediglich in Neukölln erreichte die Partei 8,5 Prozent (2004: 4,6 Prozent).
Im Osten der Stadt erlitt die LINKE geradezu ein Fiasko: Mit einem Verlust von 16 210 Stimmen gegenüber 2004 ist sie hier die klare Verlierersiegerin. Abgeschlagen »auf den Rängen« folgen CDU (-4 607 Stimmen) und SPD (-1915 Stimmen). Rechnerisch gewann die SPD somit 0,4 Prozent hinzu, die LINKE verlor 3,4 Prozent. Auch in Ost-Berlin ist die FDP mit einem Plus von 6 034 Stimmen Gewinnerin. Stabilisiert haben sich im Osten nur die Grünen. Zu denken geben müssen der LINKEN die Verluste in den Hochburgen: 1,8 Prozent in Treptow-Köpenick (-2 684; das ist Gysis Wahlkreis!), -2,1 Prozent in Marzahn-Hellersdorf (3 505 Stimmen), -2,6 Prozent in Lichtenberg (3 858 Stimmen). Die heftigsten Einbrüche wurden in Pankow erzielt (4 152 Stimmen; das sind -33 Prozent). In Pankow versuchte bei den Abgeordnetenhauswahlen 2006 die damalige PDS mit einem rabiat gegen die Grünen ausgerichteten Wahlkampf diesen das Feld streitig zu machen. Sie verlor grandios. Zu den kommenden Bundestagswahlen will der ehemalige Landeschef Stefan Liebich (berlinliebich-liebichwählich) hier Wolfgang Thierse (SPD) aus dem Sattel heben. Die Zeichen stehen schlecht.
Es war zwar »nur« die »Europawahl«; aber für die LINKE in Ost-Berlin bestätigte sie einen Trend, der seit Mitte des Jahrzehnts anzudauern scheint: Der Partei erodieren die Hochburgen, und ihre Protagonisten weigern sich tapfer, das irgendwie in einem Zusammenhang mit der eigenen Politik und der eigenen Personage zu sehen. Übrigens wurde in einigen Analysen tatsächlich das Wetter beschworen: Es wäre zu schlecht gewesen, daher wären viele Stammwähler zu Hause geblieben. Im Vorabend der Wahl hoffte mancher noch, daß der Wetterbericht zutreffen möge: Bei zu schönem Wetter sind die normalerweise auf der Datsche. Die vier Feinde des Sozialismus lassen grüßen …
Aber im Ernst: Die LINKE hat zu den Europawahlen 2009 in Berlin eine Niederlage eingefahren. Der von Carola Bluhm angeführte Zuwachs im Westen wiegt die Verluste im Osten nicht mehr auf. Die meisten Wähler in Berlin haben ihr Kreuzchen weniger aufgrund tiefschürfender Analysen der kaum verständlichen Wahlprogramme der Parteien auf dem Wahlschein angebracht. Potentielle LINKE-Wähler setzten sich auch in Berlin eher mit der Politik der Partei vor Ort auseinander. Die ehemalige Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses Martina Michels, sie kandidierte für die LINKE auf Listenplatz acht und verlor knapp, bestätigt das übrigens. Diese Politik hat wieder einmal eine Quittung bekommen. Es ist zu erwarten, daß sich dieses wiederholen wird. »Pragmatische Lösungen vor Ort« würden sich in Wählerstimmen auszahlen – behauptet Stefan Liebich, der sich gern als intellektueller Widerpart Lafontaines sieht. Nun denn.