Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Römische Notizen

von Renate Hoffmann

Kolosseum: monumentaler Antikenrest. Vespasian, Titus, Domitian – die römischen Potentaten – ließen im 1. Jahrhundert daran bosseln. Ihr Vorgänger Nero hatte bereits nahebei seine etwa 35 Meter hohe Bildsäule erhalten (colossus Neronis). Dieser Machtprotz setzte sich namengebend gegen die korrekte Bezeichnung »Flavisches Amphitheater« durch. Ellipsenförmige Anlage; längs 188 Meter; quer 156 Meter; die Höhenangaben schwanken zwischen 49 und 57 Metern; bei dem gigantischen Bau feilscht man nicht um kleine Differenzen. Drei Ränge mit Sitzplätzen für 50 000 Zuschauer, ein Rang mit Stehplätzen für 25 000 Besucher. Erster Rang den Senatoren vorbehalten. Vierter Rang für Frauen und »niederes Volk«. Latrinen mit fließendem Wasser vorhanden. Unter der Arena ein Labyrinth von Räumlichkeiten für Requisiten, Werkstätten, Schauspieler, Gladiatoren; Tierkäfige und Stallungen. Technik-Kammern mit ungefähr hundert Aufzügen, zum schnellen Szenenwechsel oberhalb (Deus ex machina).
Strahlender Morgen. Touristenströme, Souvenirbuden, Pinien rund um das Zeugnis hochrangiger Ingenieur-Kunst. Auf den Etagen des monströsen Baues wuselt, kribbelt – ameisengleich –, vielsprachig und bunt die halbe Welt. Kurzfristiges Denken an »Gullivers Reise zur Zwergeninsel«. In der Tiefe ragen Überbleibsel von Laufgängen und Kammern. Der Orkus der Spiele. Abgegrenzt und nicht begehbar.
Casa di Goethe. Man weiß: 3. September 1786, früh 3 Uhr, stiehlt er sich »aus dem Carlsbad weg.« Begründung: »Man hätte mich sonst nicht fortgelassen. « Das Reiseziel betreffend: »Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif.« Dann folgen etwa rund 1 500 Kilometer beschwerlichen Weges. Tagebuch, 29. Oktober: »Ich kann nun nichts sagen als ich bin hier.« Herr Goethe in Rom.
Er schickt nach Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm, Maler. Der nimmt ihn in sein »schönes Quartier« auf. Als ordentlicher Mensch und erfahrener Hofbeamter gibt er baldigst seine Ankunft im Personenstandsregister der Pfarrei Santa Maria del Popolo bekannt, als » Fillipo Miller, tedesco, pittore 32« – der Schwindler.
J.W.G. malt, zeichnet, schreibt; schließt Künstlerfreundschaften, durchstöbert das antike und moderne Rom. Vollendet unvollendet gebliebene Arbeiten (Iphigenie, Tasso, Egmont, etc. etc.); bringt rosigen Schein in sein Liebesleben. Nach anfänglichem Zögern – »Die Mädgen, … die als Modelle sich bey den Mahlern einfinden, sind allerliebst … Es wäre auf diese Weise eine sehr bequeme Lust, wenn die französischen Einflüsse nicht auch dieses Paradies unsicher machten« – findet er sein Paradies. Faustine heißt die Kleine in den »Römischen Elegien«. (»Laß dich, Geliebte, nicht reun, daß du mir so schnell dich ergeben! …«)
Via del Corso 18 (Nähe Piazza del Popolo), nunmehr museale Einrichtung Casa di Goethe. Erster Stock: Vormals Tischbeins Wohnbereich. Auf der Staffelei im Atelier »Goethe in der Campagna di Roma« (Kopie). Der Dichter, hingelagert auf einem umgestürzten Obelisken, die Ruinen der römischen Landschaft überschauend. »Es gibt ein schönes Bild«, meinte er, als Tischbein ihn in dieser Pose malte, »nur zu groß für unsere nordischen Wohnungen.«
Goethe allüberall. Von ihm Bücher, Zeichnungen, Aquarelle; Rom von jeglicher Seite, ober- und unterirdisch, auch von der Porta del Popolo aus – hier gleich um die Ecke. Vesuvausbruch, Ansichten von Ätna und Stromboli (G. und der Vulkanismus); Küstenlandschaften. Tischbein zeichnet Goethe auf einem Stuhl sitzend, lesend und … kippelnd. Tischbein skizziert, mit schnellem Strich, Goethe und einen Freund der Künstlerwohngemeinschaft auf einem Sofa. Nicht sitzend, sondern fläzend! Der Maler gibt den Poeten in seinem römischen »Stübgen« wider. Spartanische Einrichtung. Reisetruhe, Folianten, Abgüsse antiker Fragmente – Katze, breite Liegestatt. Mit zwei Kopfkissen. Mit zweien. Herr G. beugt sich über das Lager, greift nach Kissen Numero zwei. Titel: »Das verfluchte zweite Kissen.«
Weshalb verflucht? Für Friedrich Bury, Mitbewohner in Tischbeins Suite, war es nicht bestimmt. Faustine? Blieb sie aus, obwohl verabredet? Man befrage den Mann aus Weimar höchstselbst unter nachstehender Anschrift: »Ich bitte diejenigen, … die mir ein Wort in die ferne bald zu sagen (haben), … einen Umschlag zu (nehmen) mit der Adresse = Al Sigr. Tischbein / Pittore Tedesco / al Corso, incontro / del Palazzo Rondanini / Roma.«
Ara Pacis Augustae. Friedensaltar. Machtvoll, prachtvoll, kaiserlich. Augustus (eigentlich mit Namen Gaius Iulius Cäsar Octavianus, 63 v. u. Z. bis 14 u. Z.), dem Großneffen und Adoptivsohn Cäsars angemessen. Er beendet den römischen Bürgerkrieg, pocht auf Frieden im Inneren, schlägt Schlachten nach außen. Krieg und Frieden, politisch geschickt im Wechsel. Das römische Reich expandiert. – Am Ende Alleinherrscher auf republikanischem Boden. Als Gottheit verehrt. Prunkt mit seinen Taten: »Als ich nach erfolgreicher Führung der Unternehmungen aus Spanien und Gallien … nach Rom zurückkehrte, ließ der Senat zur Feier meiner Rückkehr einen Altar für die Pax Augusta im Campus Martius (Marsfeld) errichten«. Fragmente davon fand man bereits im 16. Jahrhundert. Später systematische Suche – entdecken, ergänzen und zusammenfügen. Unlängst versah der amerikanische Architekt Richard Meier die gesamte Anlage mit einem neuen Glas-Stahl-Bau.
Der weiße Altar (Marmor aus Carrara) schimmert im Licht wie Seide. Eine große umfassende Wand schützt ihn und gewährt durch zwei Pforten Eintritt in das eigentliche Heiligtum. An der Umwandung eine Fülle von historischen und mythologischen Gestalten. Der Figurenfries. Darunter, durch ein Mäanderband getrennt, Überfülle von stilisierten Blüten, Blättern und von Tieren. Das Pflanzenornament.
Garten Eden in Stein, nur Adam und Eva fehlen. Acanthus mollis mit der raffinierten Blattform sprießt kräftig, verzweigt sich, rankt, blüht, wandelt sich in neue Arten. Läßt der Silberdistel Raum und dem wilden Kümmel und der Ackerwinde. Lorbeer drängt stolz dazwischen, mit Blatt und Beeren. Efeu und Weinlaub wuchern, verwirren das Auge. Vom Frühling künden Krokus, Narzisse, Anemone und das bescheidene Alpenveilchen. Mohn, Glockenblume und Malve vertreten den Sommer. Die Rose fehlt nicht und nicht die keusche Madonnenlilie. Tafelgenüsse versprechen Dattelpalme, Artischocke und Spargel. Im Geißblatt-Geranke huschen Eidechsen, die den wohlklingenden Namen »Lacerten« tragen. Still schwimmt die Seerose im floralen Treiben. Was kümmern sie Frösche und die Schlange, die ein Vogelnest beschleicht. Schwäne schwingen sich in die Luft. Über geöffneten Blütenkelchen schweben Schmetterlinge.
Ein Wunderwerk, das kurz vor der Zeitenwende entstand und einstens bunte Farben trug. Es läßt Augustus und Mars, Opferszenen und Demonstrationszüge der Macht vergessen.