Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 22. Juni 2009, Heft 13

Kluge, Marx, Formalismus

von Detlef Kannapin

Neun Stunden mutet uns Alexander Kluge mit seinen Nachrichten aus der ideologischen Antike über Marx und Eisenstein auf DVD zu. Daß Sergej Eisenstein von 1927 bis 1929 an Plänen zur Verfilmung des ersten Bandes des Kapitals von Karl Marx arbeitete, ist weitgehend bekannt. Was das heute noch für uns bedeuten kann, ist hingegen keine unerhebliche Frage. Von Anfang an geriert sich nun diese Edition als Ultima ratio eines gelungenen Marx-Eisenstein-Verständnisses. Ist das gerechtfertigt? Nein.
Begründung: Der Anspruch, den Zusammenhang zwischen dem Kapital von Marx und der Verfilmungsabsicht Eisensteins zu enthüllen, ist nicht eingelöst worden. Zwar beginnt Kluge mit Überschneidungen beider Personen und Werke. Er rekonstruiert auch Eisensteins Anspruch treffend, daß eine Verfilmung nach dem Szenarium von Karl Marx den für ihn einzig möglichen formalen Ausweg darstellte. Eine dermaßen kühne Behauptung, die schon damals als einzigartige Herausforderung an eine materialistische Kunstauffassung betrachtet werden mußte. Daraus allerdings folgt hier nichts Substantielles. Neben der immer wiederkehrenden, ermüdenden dctp-Ästhetik treten Zeitgenossen auf, die mehr oder minder glücklich sowohl an Marx als auch an Eisenstein heruminterpretieren, als seien Zooinsassen zu besichtigen. Die Eisenstein-Biographin Oksana Bulgakowa hält die Verfilmungsidee für ein Produkt von Eisensteins Drogenkonsum während der Schnittarbeiten an Oktober: Dietmar Dath spekuliert über subjektive Momente der Kapital-Lektüre, die weit davon wegführen, was Marx sonst mitzuteilen hatte. Peter Sloterdijk und Boris Groys offenbaren sich durch ihren gepflegten Manierismus einmal mehr als Apostel der Marxologie. Geschlossen wird der Vorhang mit Helge Schneider, dessen spaßiges Spiel jedoch nichts mit dem zu tun hat, was hier zu verhandeln gewesen wäre.
Und über allem thront der unbestechliche Konstrukteur, Autor, Regie- und Platzanweiser Alexander Kluge. Seine Bildmetaphern sind viel- und nichtssagend zugleich. Seine Interviewführung gibt die Antworten schon per se vor. Und seine Interviewpartner machen dabei mit. Schade eigentlich, daß die legendären Aufnahmen mit Heiner Müller fehlen, bei denen der jeweils nicht Redende nur ein Mmh-mmh-Gestammel von sich gab – als untrügliches Zeichen heimlicher Verwandtschaft, die dem Zuschauer für immer verschlossen bleiben mußte.
Zur Methode: Wer sich auch nur rudimentär mit den Fernseharbeiten Kluges vertraut gemacht hat, wird schnell erkennen, daß hier Recycling angesagt ist. Vieles von dem, was als originär im Film erscheint, war schon einmal in Ten to Eleven auf Sendung. Manches davon ist uralt. Darüber hinaus verfällt das Konstrukt in hunderte und tausende von Assoziationen, deren eingehende Analyse in etwa soviel Zeit bräuchte, wie zur Herstellung des ganzen Films aufgewandt wurde. Das heißt viel Zeit, gerechnet auf Monate und Jahre. Damit sind die Filmproduzenten aus dem Schneider. Hier bringt es die Masse. Und die erschlägt.
Zum ideologischen Hintergrund ist soviel zu sagen, daß nichts schlimmer ist, als wenn sich Zeitgeist-Surfer mit marxistischen Floskeln schmücken. Das macht die Sache uneindeutig und nicht erfrischend. Warum heute noch in solchen Kreisen mit den Marxschen Kategorien hantiert wird, ist mir nicht klar. Der Weg verläuft doch schon lange abseits von Hegel und Marx. Bei allen Unterschieden zwischen den im Film auftauchenden Figuren Hans Magnus Enzensberger und Lucy Redler einigt sie doch der Duktus, in irgendeiner Situation, in irgendeinem Fall und in irgendeiner Position zumindest einmal auf der richtigen Seite gestanden zu haben, wenn sie auch sonst in ihrer Realitätsblindheit höchstens fünf Meter vom Rückfall in den Spätimperialismus getrennt sind.
Das Stück ist reiner Formalismus. Von Peter Hacks ist die schöne Bemerkung überliefert, die Formalismusdiskussion in der frühen DDR war ein richtiger Ansatz, der nur völlig falsch angepackt wurde. Heute kann man analog und digital das Zeitalter besichtigen, in welchem diese Worte ihre wahre Bedeutung entfalten.
Warum Eisenstein im übrigen niemals auch nur in die Nähe der Realisierung eines Kapital-Films kam, beantwortet Kluge nicht: Stalin hat ihn seinerzeit schlicht und einfach für verrückt erklärt.

Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein  Das Kapital, filmedition suhrkamp 1, Frankfurt am Main 2008, 3 DVD, 570 Minuten, Farbe und schwarz/weiß, 29,90 Euro.