Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 22. Juni 2009, Heft 13

Einar Schleef

von Kai Agthe

Einar Schleef notierte im Frühjahr 1981 in seinem Tagebuch, daß er angekommen sei, aber nicht wisse, wo. Diese paradoxe Auskunft könnte über dem gesamten Leben des 1944 in Sangerhausen geborenen und 2001 in Berlin gestorbenen Multitalents stehen. Nach einem Studium für Bühnenbild in Berlin verließ er 1976 die DDR, weil er das von den DDR-Behörden verhängte, regelmäßige Einkünfte verhindernde Berufsverbot nicht akzeptieren wollte. Aber der Bühnenbildner Einar Schleef war kein Wolf Biermann. Es sollte viele Jahre dauern, ehe der passionierte Theatermann eine Inszenierung übertragen bekam: Seine Lesart der »Mütter« nach Euripides und Aischylos im Schauspiel Frankfurt begründete 1986 seinen Ruf als Enfant terrible des westdeutschen und später des gesamtdeutschen Theaterbetriebs.
Die Jahre, in denen er nicht für die Bühne tätig sein konnte, sind in dem – als »Tagebuch« nur unzureichend bezeichneten – vierten Band des Monumentalwerks sofort zu erkennen: Es sind die literarisch ergiebigsten. Bis er in Frankfurt unter der Intendanz von Günther Rühle Regieaufgaben übernehmen konnte, widmete er sich dem Schreiben. Das Diarium der frühen achtziger Jahre, besonders des Jahres 1981‚ ist ein Steinbruch aus zum Teil in mehreren Fassungen geschriebenen Prosa-Stücken und Fragmenten. Auch als Schriftsteller hatte Schleef einigen Erfolg. 1980 erschien, durch Golo Mann gefördert, der erste Teil des Romans »Gertrud«. Nach Publikation des zweiten Bandes 1984 attestierte der Spiegel dem Autor: »Die Besessenheit, mit der Einar Schleef schreibt, war stets eines Erkennungsmelodie großer Literatur.« Eingeordnet wird er damals schon zwischen Uwe Johnson und Samuel Beckett.
Für den Bildband »Zuhause«, in dem Fotos aus dem tristen Sangerhausen der siebziger Jahre vereint sind, erhielt Schleef 1981 den Kodak-Fotopreis. Und für die Erzählung »Arthur«, die später in einer bibliophilen, mit eigenhändigen Aquarellen Schleefs illustrierten Ausgabe erschien, bekam er im selben Jahr den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. 1982 errang er mit der Erzählung »Wittenbergplatz« beim Ingeborg-Bachmann-Preis den dritten Platz. In der Folge wurden auch seine Stücke an westdeutschen Bühnen zur Aufführung gebracht. Im Jahr 1983 wurde in Heidelberg Schleefs »Berlin ein Meer des Friedens« uraufgeführt; 1984 sein Kinderstück »Das lustigste Land« in Wilhelmshaven. Aber all diese Ehrungen, die mehr waren als Achtungserfolge, werden von Schleef nicht reflektiert. Denn dem Künstler ging es, mit Konstantin Wecker zu sprechen, allein ums Tun, nicht ums Siegen.
Wenn also stets eine latente Unzufriedenheit aus dem Diarium spricht, dann deshalb, weil es Schleef, dem sein literarischer Erfolg nicht übermäßig viel zu bedeuten schien, zum Theater drängte. Aber auch die 1986 beginnende zweite Laufbahn als Regisseur war ein Kreuzweg. Seine – wie Schleef befand – bald allerorten nachgeahmte Bühnenästhetik rief die Kritiker auf den Plan. Peter Zadek setzte in vollkommener Verkennung des Schleefschen Theater-Konzepts den vernichtenden Kritiken die Krone auf, als er Schleef allen Ernstes vorwarf, »Faschismusscheiße« auf die Bühne zu bringen. Kollege Zadek stieß sich am unorthodoxen Formenkanon Schleefs, der, beginnend in den achtziger Jahren, in seinen Inszenierungen klar gegliederte, weitgehend ohne Requisiten gestaltete Räume, rhythmisches Sprechen und das Gegenüber von Individuum und Chor bevorzugte. Nicht erst damit war Schleef ein Skandalon – für das sich die Presse zusehends interessierte: In den Diarien der neunziger Jahre reihen sich mit Schleef geführte Interviews, in denen er sich auch über seine Kindheit und Jugend äußerte, in dichter Folge. Es sind alles Gespräche, in denen er Tacheles redete und auch oft und gern wiederholte, daß ihn das zeitgenössische Schauspiel nerve. Auf die von Frank Raddatz im Jahr 1994 gestellte Frage, ob er gern ins Theater gehe, antwortete Schleef: »Ins Theater gehe ich selten. Ich frage mich immer mehr: Wofür das alles und warum? (…) Ich habe immer geglaubt, daß ich jemand sei, der im Theater etwas bewegen könnte. Doch was habe ich geschaffen außer einer Menge Nachahmer, die überall machtvoll gefordert werden?« In dem Interview fand Schleef auch zu dieser harten Selbsteinschätzung: »Ich war im Osten genauso anstrengend wie hier, ein Unikum. Ich kam vom Dorf und habe meine popeligen Kleinstadt-Allüren nie verloren. Ich habe mich auch im Westen nicht gebessert. Meine Umgangsformen sind ekelhaft. Meine Ausdrucksweise ist schlecht. Was ich mache, ist rabiat.«
Daß Schleef noch Jahre nach seinem Tod aneckt, wird auf den Seiten 400 bis 402 deutlich. Dort wurde der Text »Autoritärer Egotrip – Replik von Sigrid Löffler auf positive Rezensionen des Puntila von Einar Schleef« geschwärzt. Aus welchem Grund, erfahrt der Leser nicht.

Einar Schleef: Tagebuch 1981-1998. Frankfurt a. M., Westberlin. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009, 459 Seiten, 30 Euro