Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 30. März 2009, Heft 7

Sichten auf Obama

von Erhard Crome

Die berühmten hundert Tage sind noch nicht herum. Dennoch glauben viele bereits zu wissen, wer oder was Barack Obama ist, was sein Tun bedeutet, was er bringen oder nicht bringen wird. Ein Problem ist in gewissem Maße die linke Sicht. Nicht die von Präsident Obama, sondern die auf Obama.

Der dürre alte Mann kommt später. Die öffentliche Debatte zu Obama läuft bereits über eine dreiviertel Stunde. Der Mann hat weiße Haare und trägt eine Hornbrille. Er ist der Typus des pensionierten Studienrates, der gern rohe Mohrrüben ißt, in Berlin-Kreuzberg wohnt und mit dem Fahrrad gekommen ist. Früher war er ein Grüner, ihr Wähler sicher, vielleicht auch ihr Mitglied, dann enttäuscht. Er kommt und schaut, was die Linken machen. Er traut ihnen nicht, weiß er doch, wie das mit der Einlaufkurve der Anbiederung ist: Die Worte hat er schon mal gehört, die von Verantwortung reden und Anpassung meinen, von Unausweichlichkeit sprechen und auf Regierungsbeteiligung schauen. Dem muß er vorbeugen, deshalb ist er hier. Gleich als erster meldet er sich zur Diskussion. Von den Vorträgen hat er zwar nur den Schluß gehört, aber er muß sagen, was Sache ist. Wir sollen keine Illusionen haben. Das sei alles nur Fassade. Und dann ist da noch der militärisch-industrielle Komplex, der wird sowieso nicht zulassen, daß sich etwas ändert. Aber die Krise, verändert die nicht die Bedingungen ifir die Politik? Der alte Mann läßt Einwände nicht gelten. Er meint zu wissen, daß man sich in Obama nur täuschen kann.

Es gibt Fakten, die solchen Sichten recht zu geben scheinen: die Ernennung des »Verteidigungsministers« und des »Sicherheitsberaters«, die Verstärkung der Truppen in Afghanistan, die Dauer, während der das Sondergefängnis Guantanamo noch fortbestehen soll, die Verlängerung der Sanktionen gegen Iran, die Vorbereitung des NATO-Gipfels, der wieder einmal eine neue Strategie ausbrüten soll. Es gibtjedoch auch andere Signale. Die Obama-Administration scheint verstanden zu haben, daß es eine Welt in der Welt gibt, jenseits von globalisierten Finanzmärkten, Ölinteressen und amerikanischen Truppenbewegungen. Es sind Menschen in der Welt, außerhalb Amerikas, mit denen man reden muß. So wurde angekündigt, daß die USA das Kyoto-Protokoll unterschreiben und sich an Maßnahmen gegen die Erderwärmung beteiligen werden. Es gibt einen Brief Obamas an den russischen Präsidenten Medwedjew, in dem auch die Raketenstationierung in Polen und Tschechien als verhandelbar bezeichnet wird. Es soll wieder Verhandlungen über die Begrenzung und Reduzierung der strategischen Atomwaffen geben. Und Rußland wird eingeladen, an einer Afghanistan-Konferenz mitzuwirken, zu der auch der Iran geladen werden soll, dem Obama unterdessen die gestreckte Hand hinhält. Sind das alles nur kleine Schritte? Unter George W. Bush war das undenkbar.

In einem privaten deutschen Fernsehsender wurde Ende Februar in bezug auf Obama gemeint: »Der Mann glaubt an eine historische Präsidentschaft und scheint fest entschlossen, Amerika zu verändern.« Der Kommentator klang nicht nach Empathie; es sollte ironisch sein, ist jedoch vor dem Hintergrund der realen Entwicklungen eher doch eine Tatsachenfeststellung. Als die wichtigsten Veränderungen gelten allerdings die in der innenpolitik der USA. Ein riesiges Rettungspaket für die Wirtschaft, Kampf um die Erhaltung von Arbeitsplätzen im Angesicht der weltweiten Krise, Pläne für eine Gesundheitsreform — 46 Millionen Menschen in den USA sind nicht versichert — sowie eine Bildungsreform, Investitionen in die marode Infrastruktur und Befördee rung einer alternativen Energiegewinnung. Wenn die USA auf einen Kurs zur Nutzung erneuerbarer Energien einschwenken, ist dies ein Beitrag zur Energiewende und macht das Land zugleich unabhängig von den Erdölimporten aus anderen Weltteilen, das heißt von den Prioritäten der Erdöl-Lobby der Bush-Zeit. In seiner Rede vor dem USA-Kongreß am 24. Februar verwies Obama darauf, daß die Konzentration des Reichtums so hoch sei wie zuletzt 1928, am Vorabend der vorigen Weltwirtschaftkrise: Das oberste eine Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als ein Fünftel des nationalen Reichtums. Das nannte er eine »Schräglage«, die nicht zugelassen werden dürfe.

Der aus den USA kommende Philosoph und Politikwissenschaftler Dick Howard macht geltend, es ginge derzeit um eine Wiedereinsetzung des Politischen in den ihm zustehenden Platz. Er betont eine Differenz, die viele in Europa nicht bemerkt haben: Die französische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts errichtete eine demokratische Republik, während die US-amerikanische eine republikanische Demokratie schuf. Die Amerikaner mußten nur die alte Kolonialmacht vertreiben, um frei zu sein, während die Franzosen den Staat erobern mußten, um eine Demokratie zu schaffen. Deshalb war in den europäischen Revolutionen, nach der französischen auch in der russischen, immer die Tendenz angelegt, daß der Staat die »gute Gesellschaft« schafft und die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft auffhebt, während in den USA die Republik lediglich der Rahmen sein sollte, in dem die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche politisch ausgetragen werden.

In dem Maße, wie die USA im 20. Jahrhundert eine imperiale Macht wurden, die immer stärker von einer Finnzaristokratie beherrscht wurde, mutierte die Politik zur Akklamation für diese Kaste. Durch die Rückschläge und Niederlagen der Bush-Zeit, die Folgen der Weltwirtschaftskrise und die sozialen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte ist jedoch eine Schwächung dieser Kräfte eingetreten. Zugleich hat seit den Wahlen, die zum Wahlsieg Obamas geführt haben, eine tiefgreifende Politisierung der US-amerikanischen Gesellschaft stattgefunden. Es hat sich ein Zeitfenster geöffnete, in dem Chancen für eine andere Politik eröffnet werden können. Obama ist zugleich Ausdruck und Antreiber dieser Veränderung. Er redet nicht von Sachzwängen, obwohl es derer genug gibt; er appelliert an den republikanischen Geist, an den selbstbewußten Staatsbürger — der im Französischen Citoyen heißt, was so schwer ins Deutsche zu übersetzen ist. Große Zeiten brauchen großen Mut, macht Obama deutlich. Und große Männer und Frauen, die sich zur Stimme der Veränderung machen, würde der Historiker hinzufügen. Für die Skeptiker hierzulande bleibt hinzuzufügen: Obama ist im Ergebnis einer demokratischen Wahl in sein Amt gekommen. Er kann nur das bewirken, wofür er Mehrheiten unter den realexistierenden Bedingungen der heutigen USA zu mobilisieren vermag.