Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 5. Januar 2009, Heft 1

Zwiespältige Erinnerung

von Gerhard Wagner

Der von Bernd Witte herausgegebene Band Topographien der Erinnerung bietet ausgewählte Beiträge eines internationalen Kolloquiums, das 2005 unter anderem von der Internationalen Walter Benjamin Gesellschaft am Institut National d’Histoire de l’Art in Paris veranstaltet wurde. Er setzt die ebenfalls von Bernd Witte edierte Sammlung Benjamin und das Exil (2006) fort, indem er sich den »philologischen, philosophischen und politischen Aspekten der ›Passagenarbeit‹« widmet und »nach dem Topographischen als Gedächtnisort und Schauplatz der Erinnerungskultur« fragt.

So finden sich hier Beiträge über Benjamins Untersuchungen zur »Phantasmagorie« der industriekapitalistischen Kultur und sein Konzept einer soziologischen Großstadttopographie (Rolf J. Goebel, Reinhold Görling), über seine Thesen Über den Begriff der Geschichte (Michèle Riot Sarcey) und sein Verständnis von »Aktualität« (Jeanne Marie Gagnebin). »Erinnerung« erscheint in diesem Sammelwerk wesentlich als eine »kollektive Reaktion der Stadtbewohner auf die medial vermittelten Effekte materieller Signifikanten«, die damals wie heute beeinflußt sei unter anderem durch Beschleunigung sozialer Mobilität, kulturelle Hybridität, multiple Subjektkonstruktionen und Traditionsverlust.

Die Übermacht der massenmedialen Erinnerungsindustrie, das in Museumswesen, Folkloregeschäft und Tourismus sich äußernde Begehren nach lokaler Identität, historischer Authentizität und kultureller Differenz hätten, so heißt es an anderer Stelle, zu einer generellen »Krise der Tradierbarkeit« geführt. Die Kultur und Medienentwicklung der Gegenwart wird darum hier zum Teil heftig kritisiert. So ist, allerdings überwiegend pauschal, die Rede von mehreren Verlusten: nämlich des »Sinns für das Mögliche« und einer »überzeugenden Avantgarde« (M. Riot Sercey) sowie eines »gesellschaftlich wirksamen Gedächtnisses« (B. Witte).

Zugleich wird die neuere Benjamin-Rezeption attackiert: Seine Passagen durch das 19. Jahrhundert zum Beispiel seien »zum Mythos geworden, zum Steinbruch der akademischen Forschung, zum Assoziationsfeld postmoderner Diskurse«; der »Kultur- und Kongreßbetrieb, der um Benjamin herum veranstaltet wird, die schicken Zitate, die Wiedergutmachungen am jüdischen Opfer, die künstlerischen Verwertungen einer tragischen Biographie usw.« hätten wenig dazu beigetragen, »unsere Gegenwart und die ihr gegebenen oder verwehrten Erkenntnismöglichkeiten kenntlich zu machen« (Irving Wohlfahrt).

Was das Werk W. Benjamins betrifft, so hätte allerdings manche Deutung zunächst eine sorgfältige, kontextbewußte historische Rekonstruktion ohne vordergründigen Gegenwartsbezug benötigt. Zum Beispiel taucht hier, wie immer wieder in der langen Benjamin-Rezeptionsgeschichte, das simple Schema vom fotografischen und filmischen Bild, das vermeintlich »dem auratischen entgegensteht«, auf eine technik- und medienfetischistische Illusion, die Benjamin noch selbst unter anderem mit Blick auf Hollywood korrigierte.

Ein weiteres Beispiel bietet Jeanne Marie Gagnebin, die einen vielzitierten Satz Benjamins aus seinem Essay Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (1931) aufnimmt: »Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist, die unsere zur Darstellung zu bringen.« In dieser apodiktischen Sentenz glaubt die Verfasserin eine konzeptionelle Grundlage für die moderne Benjamin-Rezeption zu finden, übersieht aber, daß sie weder dialektisch noch neu ist.

Mögliche gegenwärtige Einsatzstellen für Benjamin – weniger für einzelne seiner Thesen, vielmehr für seinen kritischen Geist – sind jedoch bald gefunden, wenn man tiefer als auf heutigen kulturindustriellen Oberflächen sucht. Da ist zum Beispiel die historische und kritische Auseinandersetzung mit modernen Formen von »Kult« und »Phantasmagorie« (B. Lindner). Da ist das Durchschauen des neoliberalen »Individualisierungsdiskurses« als Herrschaftsstrategie (B. Witte). Und da ist die Auseinandersetzung mit den apologetischen Tiefen jener verordneten Betroffenheit, wie sie in der offiziellen deutschen »Erinnerungskultur« in Sachen »Nationalsozialismus« waltet, der an einem tiefgründigen Bewußtsein für die Ursachen von Faschismus, Krieg und Völkermord nicht gelegen ist. So wäre gewiß eine »Neulektüre« Benjamins zu erreichen, als deren Basis Rolf Goebel zu Recht eine Methode sieht, »die dialektisch das philologische Textstudium mit einer radikalen konzeptionellen Übertragung, Neudeutung, Erweiterung und Kritik kombiniert«.

Bernd Witte (Hrsg.): Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins »Passagen«, Verlag Königshausen & Neumann Würzburg 2008, 303 Seiten, 29,80 Euro