Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 8. Dezember 2008, Heft 25

Paradies der Begegnungen

von Günter Wirth

Harald Kretzschmar, der freche Zeichenstift des Eulenspiegels, der Porträtist des »Wer ist wer in der DDR (gewesen)?«, hat ein »Paradies der Begegnungen« observiert, der »Künstlerort Kleinmachnow«, in dem er seit mehr als fünfzig Jahren lebt und in dem er in den letzten Jahren, seine Observierungen vertiefend, daran gegangen war, als »Archäologe« der Kunstgeschichte umfassenden Ausgrabungen nachzugehen. Er war wohl selber überrascht von der Fülle der Funde, und diese hat er in fast zweihundert ebenso leicht wie genau, ebenso geistreich wie faktenreich geschriebenen und in hundert in bewährter Eulenspiegel-Qualität hingehaucht gezeichneten Porträts von Künstlern und Intellektuellen aus neun Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter die adäquat gestalteten Buchdeckel von Faber & Faber gebracht. Eine narrative Kulturgeschichte, alles andere als eine nur »lokale«, sozusagen ein »Gesamtkunstwerk« (es fehlen nur die Noten) ist daraus geworden.
Es fällt wahrlich schwer, auf einige von Kretzschmars Funden, auf einige damit verbundene Namen gesondert hinzuweisen, denn wenn man diese aufschreibt, treten sofort jene in Erscheinung, die auch oder erst recht verdienten, fokussiert zu werden. Sei’s drum!
Arnold Schönberg komponiert 1912 in der »Villa Lecke« das Melodram »Pierrot Lunaire«, ein Hauptwerk des Expressionismus, und Franz Marc und Alma Mahler besuchen ihn. 1932/33 haben sich Kurt Weill und Lotte Lenya hier niedergelassen, es entsteht unter anderem die Musik zu Georg Kaisers »Silbersee«, Caspar Neher hilft am »Tag von Potsdam« zur Flucht. Zwei bekannte sozialdemokratische Politiker entdecken Kleinmachnow: Adolf Grimme, preußischer Kultusminister von 1930 bis 1933, und Georg Gradnauer, nach 1918 erster sozialdemokratischer Ministerpräsident in Sachsen und zeitweiliger Reichsinnenminister. Grimme muß sein vor allem von Max Taut errichtetes Haus mit seiner Frau, einer Malerin, verlassen – sie sind angeklagt im Prozeß gegen die »Rote Kapelle«, und auch für Gradnauer ist es des Bleibens nicht, Theresienstadt wird zwar nicht ganz die letzte Station für ihn; aber der Achtzigjährige ist so geschwächt, daß er 1946 stirbt. Vom Machnower Busch aus schickt Heinz Flügel seine Essays an Rudolf Pechels konservative »Deutsche Rundschau« und an Kurt Ihlefelds protestantischen »Eckart«, den er 1950 selber übernehmen und dort früh Gedichte von Johannes Bobrowski drucken wird. Am 2. Dezember 1943 kommt der von Peter Weiss in der »Ästhetik des Widerstands« so eindrücklich vorgestellte norwegische Schriftsteller Nordahl Grieg (Großneffe des Komponisten) bei einem Flugzeugabsturz im Zuge des Bombenkrieges (er war als Reporter dabei) am Fuße der Hakeburg ums Leben. In den dreißiger Jahren haben zwei Journalisten mit ihren Familien in Kleinmachnow ihren Wohnsitz aufgeschlagen, der eine, ehemals jüngster Reichstagsabgeordneter (Deutsche Demokratische Partei), schreibt Korrespondenzen für die Neue Zürcher Zeitung und für den Pester Lloyd, der andere, ausgesprochen national orientiert, dient einem Pressedienst für das Ausland, und beide werden nach 1945 Exponenten einer neuen, einer christlich-demokratischen Partei, der eine, Ernst Lemmer als stellvertretener Vorsitzender, der andere, Georg Dertinger, alsbald als Generalsekretär. Der eine, Lemmer, wird schon 1947 abgelöst, fährt aber noch bis April 1949 zu den Sitzungen des brandenburgischen Landtags und nimmt seine Funktionen im FDGB wahr, der andere, erster Außenminister der DDR, wird 1953 verhaftet und kommt erst – seine Familie in Sippenhaft – nach elf Jahren frei, der eine wird später Bundesminister in verschiedenen Ressorts, der andere noch ein paar Jahre Lektor des katholischen »St. Benno-Verlags« in Leipzig. »Manches war doch anders« überschreibt Ernst Lemmer 1968 seine Memoiren gegen den Strich der bundesrepublikanischen politischen Correctness.
1948 kommt die Parteihochschule der SED nach Kleinmachnow, auf die Hakeburg, und dort finden sich einige Lehrerpersönlichkeiten mit einer je singulären Biographie ein, es sei nur Frida Rubiner genannt, die Freundin und Übersetzerin Lenins und Trotzkis (ihr Mann, der Schriftsteller Ludwig Rubiner, ist schon lange tot) und Wolfgang Leonhard. Unter den Schülern sind welche auszumachen, die eine solche Biographie vor sich haben: Carola Stern und Hermann Weber.
In Kleinmachnow entsteht Christa Wolfs »Kindheitsmuster«, und ihr Mann macht sich an die »Beschreibung eines Zimmers«, nämlich das von Johannes Bobrowski und seinem literarischen Kosmos, das gefiel dem Buchministerium gar nicht, es sei doch dieses Manuskript (ein genialer Einfall) gar nicht christlich – es war dem leicht zu begegnen, ein bißchen mehr Hamann und Herder, des Dichters Favoriten, und die Druckgenehmigung ist nicht länger zu verweigern. Wie Walter Janka und seine Frau wohnen die Wanders bei Familie Wolf um die Ecke, sie – Maxie – sammelt, schon vom Tod gezeichnet, die Fraueninterviews für »Guten Morgen, du Schöne« (es soll dieses Buch zum literarischen Ereignis werden), und er, Fred, gräbt den »Siebenten Brunnen«.
Und wer ist noch, mindestens zeitweilig, hier zu entdecken? Die Garde der DEFA-Regisseure von Frank Beyer bis Lothar Warnecke. Und … die Schauspieler, von Erwin Geschonnek bis Gisela Uhlen. Und … die Publizisten, von Lothar Creutz bis Ursula Madrasch-Groschopp. Und … die bildenden Künstler, von René Graetz bis Herbert Sandberg. Und natürlich ist auch Kretzschmar selber dabei, sogar in dreifacher Gestalt: HK vor dem Spiegel, im Spiegel und unvollendet auf dem Zeichenblock, es ist also noch einiges zu erwarten.
Ort der Begegnung hat Kretzschmar den Künstlerort Kleinmachnow genannt (nur so ähnelt er Worpswede, Murnau, Hellerau). Daher auch wird sein Buch dort besonders aufschlußreich, wo solche Begegnungen, wie auch immer, über die Zeiten hinweg zum Ereignis werden.
Im Erlenweg 29 hatten sich um 1910 – die frühesten »Kolonisten« – Lily und Heinrich Braun eine Villa bauen lassen, für das Honorar, das die aus ihrer sozialen Schicht sezessionierte Lily für ihre Bücher erhalten hatte, unter anderem »Memoiren einer Sozialistin«. Auch Heinrich Braun hatte seine großbürgerliche Familie hinter sich gelassen und war ein ebenso bekannter wie umstrittener sozialdemokratischer Theoretiker geworden. Nach dem frühen Tod Lilys heiratete er eine viel jüngere Rabbinertochter, Juli Vogel-Stein, die sich, alsbald alleinstehend, von Kleinmachnow aus einen Namen als Kunsthistorikerin machte. 1936 riet ihr Freund, der Diplomat Adam von Trott zu Solz, das Land zu verlassen, er half ihr; hoch betagt starb sie in den USA.
Auf dieses Haus trifft Kretzschmar noch einmal, als es der Schriftsteller Paul Herbert Freyer in Kleinmachnow ortet. Dieser war erst als viel gespielter Dramatiker hervorgetreten, um dann ein erfolgreicher, maritime Motive bevorzugender Fernsehautor zu werden. Auf seinen Reisen nach Afrika hatte er auch Station bei Albert Schweitzer gemacht, und es lag daher nahe, daß er literarisch hierauf zurückkam, natürlich im gleichsam DDR-Hausverlag des grand docteur, in dem von Hubert Faensen (Kleinmachnow) geleiteten Union Verlag.
Aus Erlenweg 29 war nach 1945 ein Kinderheim geworden, eine Heimstatt für elternlose Kinder, und Freyer sorgte mit dafür, daß 1975 dort die »noch heute segensreich wirkende Albert-Schweitzer-Schule« entstand, in den achtziger Jahren von Gästen aus Lambaréne besucht.
Ein großartiges Buch, denn es ist ein anregendes Buch – unter anderem auch dazu, anderenorts solche »Ausgrabungen« vorzunehmen. Kaufen, nehmen, lesen.