Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

Wenn die Toten erwachen

von Achim Engelberg

Stalin (zu Hitler): Verbrennst du meine Dörfer. Das ist gut.
Weil sie dich hassen, werden sie mich lieben.
Deine Blutspur wäscht meinen Namen rein.
Heiner Müller, Germania 3 – Gespenster am toten Mann

Mehr als im übrigen Westeuropa verdecken in Deutschland die Naziverbrechen immer noch die Stalinschen Massenmorde und Deportationen. Fünf Jahre mußte deshalb der erfolgsverwöhnte Romancier Martin Amis warten, bis sein Stalin-Buch Koba der Schreckliche hierzulande erschien. Nun aber diskutierten es prominente Autoren – von Daniel Kehlmann bis Karl Schlögel.
Das Werk ist ein wortgewandter, zuweilen auch geschwätziger Großessay mit offensichtlichen Stärken und eklatanten Schwächen. Es ist die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung, eine Abhandlung über Massenmorde in der Sowjetunion und eine Auseinandersetzung mit der westlichen Linken. Auf letztere ist der Untertitel gemünzt: Die zwanzig Millionen und das Gelächter. Einerseits die Millionen Ermordeter und Verhungerter, Vertriebener und Verstörter, und andererseits ist es im Gegensatz zur Shoah erlaubt, mit Witzen und Geistreicheleien aufzuwarten. Wenn – um hierzulande zu bleiben – der späte Peter Hacks Stalin als Humanisten bezeichnete, tut man dies in linken Kreisen gern lächelnd ab oder lobt die Ironie, die sich ja auch in seinen Stalingedichten zeige.
Martin Amis ist der Sohn des renommierten Romanciers und Poeten Kingsley Amis, der sich – von Zweifeln schon ergriffen – durch die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 vom Kommunisten zum glühenden Antikommunisten wandelte. Beim Vietnamkrieg engagierte er sich dann sogar für das amerikanische Vorgehen. Noch 1975, so der Sohn, wollte niemand als »›Kommunistenfresser‹ angesehen werden – das heißt: niemand außer meinem Vater.«
Hier erhielt der 1949 geborene Sohn seine geistige Prägung, die ihn in die Fußstapfen des Vaters treten ließ – beide erwiesen sich als Erzähler von internationalem Format. Fremd sind Martin Amis die Briefe des vom Kommunismus inspirierten Kingsley Amis, und die Geschichte des Kommunismus sieht er nur als eine der Verbrechen. Die Weltwirkung des Roten Oktobers von 1917 wird von ihm nur als Täuschung wahrgenommen. Immer mehr nähert er sich der haßgetrübten Äußerung von Bunin, daß Lenin »ein von Geburt an moralisch Schwachsinniger« gewesen sei. Was von 1917 bis 1991 in Rußland geschah, ist für ihn »vollstreckter Wahn«. Wer seinen ideologisch verbrämten Moralismus nicht teilt, gerät ins Kopfschütteln über soviel Unverständnis.
Andererseits scheinen psychologisch interessante Fragen auf: Blieb der Renegat Kingsley Amis, der einen radikalen Glauben durch einen anderen ersetzte, politisch blind? Übertrug er das erlittene Trauma des politisch-moralischen Irrtums auf den Sohn? Es bleibt das seltene Phänomen, daß Vater und Sohn als Schriftsteller gleichrangig sind.
Und seine Qualitäten als Erzähler zeigt Martin Amis, wenn er über die »epische Höllenqual des Gulag« schreibt. Das ist kraftvoll und anschaulich – mit sicherem literarischen Gespür erkennt er wichtige Autoren, die die Sowjetunion hervorgebracht hat, und zitiert prägnante Passagen von Wassili Grossman und Warlam Schalamow, Jewgenia Ginsburg und Alexander Solschenizyn. Zu den dramatisch einprägsamen Szenen über Stalin gehört etwa, wenn dieser »Meister der Eskalation« beim Staatsbegräbnis für den wahrscheinlich in seinem Auftrag ermordeten Kirow in schauriger Weise dessen Leichnam küßt.
Martin Amis führt den großen Terror und die Lagerwelt, die Schauprozesse und Deportationen, die sich tief in das Gedächtnis der sowjetischen Völker und ganz Osteuropas einprägten, einem breiteren Publikum vor Augen und zu Herzen, mehr als es Historiker vermochten. Dabei stößt man immer wieder auf psychologisch-anthropologisch Bedenkenswertes: »Erhält ein Mensch die totale Macht über andere, wird er zum Folterer.«
Mit Emphase klagt Martin Amis an: Jeder kennt Auschwitz, keiner Workuta. »Jeder weiß von den 6 Millionen des Holocaust. Niemand weiß von den sechs Millionen der Terror-Hungersnot.« Im Westen, muß man hinzufügen. Sicher aber ist, daß – wenn ein europäisches Bewußtsein entstehen soll – der westliche Blick nicht bei den Vernichtungslagern der Nazis enden darf und der östliche nicht beim Gulag.
Martin Amis tritt ein für die vergessenen Opfer, für die in der Steppe und in der Taiga Verscharrten; allerdings übersieht seine moralische Rhetorik ähnliche Konstellationen in der Gegenwart. Die Stoßrichtung des eben zum Professor in Manchester berufenen Erfolgsromanciers geht einseitig gegen die politische Linke. Der blinde Fleck der Linken war oft, aber nicht immer, das Verschweigen der im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen oder eben auch das Weglachen; der blinde Fleck von Martin Amis und seinen intellektuellen Freunden aber, die oftmals den Irakkrieg unterstütz(t)en, ist ihr Vertrauen in den liberalen Kapitalismus.
Solange es weder in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch in Westeuropa ein angemessenes Erinnern der Gulag- und Terrortoten gibt, bleibt Martin Amis mahnendes Buch aktuell. Zeigen doch auch die gegenwärtigen Diskussionen nach dem »Erinnerungsgesetz« in Spanien – fast siebzig Jahre nach dem Bürgerkrieg –, man kann die Vergangenheit lange, oft zu lange, verdrängen, verleugnen, umschreiben, allerdings nicht für immer. Ein ästhetisch-moralisches Bewußtsein, das durch die Kulturen und Zivilisationen variationsreich konstant ist, verlangt Sühne nach der Schuld, Strafe nach dem Verbrechen und sei es auch spät und nur symbolisch. Der Tag, an dem die in der Sowjetunion Ermordeten erwachen, wird kommen. Es bleibt die drängende Frage, ob ihn die letzten Zeugen noch erleben.

Martin Amis: Koba der Schreckliche – Die zwanzig Millionen und das Gelächter. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Hanser Verlag München 2007, 296 Seiten, 21,50 Euro