Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 24. November 2008, Heft 24

Nach der Wahl

von Max Klein, z. Z. Chicago

Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief …«, so Stefan Heym, früherer Offizier der US Army und späterer Alterspräsident des Deutschen Bundestags, an einem denkwürdigen 4. November, als sich hunderttausende Menschen versammelten, um dem Untergang ihrer Gesellschaft zu entgehen. Die Stimmung damals war auf merkwürdige Weise heiter, die Sonne schien, und man durfte hoffen.
»Hope«, Hoffnung, war es wohl auch, wonach sich die amerikanischen Wähler sehnten, vielleicht nicht nur jene, die Barack Obama wählten, und wieder war es ein 4. November und wieder schien zufällig die Sonne, bis es Nacht wurde, und ich stand wieder inmitten von hunderttausenden Menschen auf einem Platz, diesmal einer Wiese, im Grant Park, einen Steinwurf vom Michigan See entfernt. Eine unübersehbar scheinende Menge von Menschen, jungen vor allem, im Schatten der Chicagoer Hochhäuser, neben dem Art Institute, zu dessen bedeutendsten und anrührendsten Gemälden »The Captive Slave« (1827) von John P. Simpson gehört.
Die Präsidentenwahl in den USA findet seit ewigen Zeiten dienstags statt, am Sonntag ist man in der Kirche, und am Montag reitet man mit dem Pferd zur Wahl, und das mochte einen Tagesritt erfordern. Diese Gemütlichkeit ist dahin, diese Wahl fand real auf endlosen Kundgebungen statt aber mehr noch virtuell im Internet, Blogs, Telefonen und Fernsehen. Bemerkenswerter als seine Eloquenz, so Chris Matthews, kluger MSNBC-Kommentator, sei das Organisationstalent des nun auf erstaunliche Weise gewählten Präsidenten.
Die Menge in Chicago tat lange nichts anderes, als CNN auf einer großen Leinwand zuzusehen. Um 18 Uhr schlossen die Wahllokale der Westküste. Man applaudierte etwas später, als CNN Barack Obama als Sieger, erst in Pennsylvania und dann in Ohio, ankündigte, zwei »battleground states«, die McCain hätte gewinnen müssen, was ihm jedoch nicht gelang. Man saß auf der Wiese, es wurde kalt, niemand reichte Glühwein, keine Bratwurstbuden, nur CNN. Um 22 Uhr stand alles auf um zu sehen, was die Vorhersagen für die Ostküste waren. CNN sagte Obama einen großen Sieg voraus. In diesem Moment hatten die USA ihren neuen Star, der Jubel, die Rührung, die Freude waren grenzenlos. Seit den sechziger Jahren habe sich keine Jugend mehr so engagiert gezeigt, hieß es, hier tanzte sie ausgelassen und feierte ihren Sieg. Anders als am 4. November 1989 hatte hier eine legale Organisation die alte Macht ausgehebelt, hat nach acht Jahren Ölmagnatentums einen farbigen Intellektuellen an die Spitze erst einer Partei und dann der Vereinigten Staaten befördert, keine Rede mehr von Wahlmanipulationen oder der Sorge, im letzten Moment könnte alles kippen.
Die erste staatsmännische Rede, der alle auf der demokratischen Wiese aufmerksam zuhörten, hielt John McCain, der dem neuen Präsidenten und seinem eigenen alten Freund Biden gratulierte. Ein merkwürdiger Mensch, der wenig Chancen hatte, wie man im nachhinein gut weiß. Er hatte Abstand zu halten, zu acht Jahren Zumutung der Wirtschaft, der Welt, des Klimas, des Geistes und war trotzdem Vertreter der diese Politik tragenden Partei, er wollte dynamisch wirken und konnte es kaum gegen den 25 Jahre Jüngeren. Seiner »running mate«, einer halbgebildeten Frau aus dem Norden des Landes, aus taktischen Gründen herbeigeholt, wünschte er schon an diesem Abend alles Gute in Alaska. McCain hielt eine kurze aber große Rede, auch ausgebuht von den eigenen Fans in seinem Hochzeitshotel Biltmore in Arizona, respektiert und sogar beklatscht von den Hunderttausenden in Chicago, die aufmerksam zuhörten obwohl sie auf ihren Sieger warteten. Man fragt sich, begreift schon und ist doch erstaunt, wie ein Mann, der half, Vietnam zu bombardieren, ein Held sein kann.
Erst in der Rede McCains spielte die Tatsache plötzlich eine Rolle, daß Obama farbig ist. Man hatte diesen bezichtigt, Sozialist zu sein, Terroristen zu Freunden zu haben, aber man machte die Rassenfrage nicht zum Thema, ein Zeichen dafür, wie akut sie wohl noch ist, aber doch auch des Willens, jedenfalls McCains, die alten Kämpfe zu beenden. Eines der eindrucksvollsten Bilder war das weinende Gesicht von Jesse Jackson, selbst einmal Bewerber um die Kandidatur innerhalb der demokratischen Partei, einer der dabei war, als am 4. April 1967 Martin Luther King erschossen wurde, King, der in Chicago mit einem Ziegelstein niedergemacht wurde, woraufhin er erklärte, hier könnten Rassisten lernen, was Haß sei. Jackson verhalf einst Bill Clinton zur Unterstützung der afroamerikanischen Wähler, mag sein, daß Clinton dies nun zurückgegeben hat.
In mancher Hinsicht ist Obama ein Phänomen. Das gilt besonders in der Rassenfrage. Im Jahr 2004 wird er bekannt mit einer Rede auf dem demokratischen Konvent in Boston, wo er erklärt, es gebe keine weißen oder schwarzen, blaue – das heißt demokratisch regierte – oder rote Staaten, sondern nur die Vereinigten Staaten von Amerika. In seinem frühen autobiographischen Bericht »Dreams from my Father« jedoch gibt es kaum eine Seite, die frei wäre von seine Hautfarbe betreffenden Geschichten, die Benachteiligung war auch in einem noch relativ behüteten und versorgten, trotzdem nicht leichten Leben, eine ständige Realität. In seiner gesamten, zweijährigen Wahlkampfzeit dieses Thema nicht zum Thema werden zu lassen ist wohl eine der bemerkenswertesten Leistungen Barack Obamas. Verschwiegen hat er es nicht, mußte sich äußern nach den Entgleisungen seines Reverend Wright, und wurde von 96 Prozent der Farbigen der USA gewählt, übrigens auch mit deutlicher Mehrheit derjenigen, die mehr als 200000 Dollar im Jahr verdienen, die er doch eigentlich verschreckt haben muß mit seiner Ankündigung, die oberen fünf Prozent härter zu besteuern.
Die Begeisterung im Grant Park war authentisch, Obama hat Kultstatus, ist auch ohne Gefangenschaft zum Helden geworden neben dem etwa Ralph Nader chancenlos war. Man fühlt sich wiederum erinnert an den Star der Sowjetunion, der vor zwanzig Jahren Hoffnungen machte, die Mauern einriß, ein bleibendes historisches Verdienst, und das Haus Europa trotzdem nicht errichten konnte. Während dieser aber wohl immer ein Funktionär war, hat jener vieles andere selbst gesehen und bewältigt. Das macht ihn so glaubwürdig, seine Kindheit als farbiger Junge, sein Studium auf der Harward Law School, sein Leben ohne Vater, seine Sozialarbeit in Chicago und sein Aufstieg in den Senat, der mit seinem Ausscheiden wieder hundert nur weiße Mitglieder haben wird.
Für amerikanische Verhältnisse ist Obama ein besonderer, kultureller Glücksfall, verbunden mit Texas, Hawai, Indonesien, Illinois, Sohn eines Kenianer, von dem er wohl viel geerbt hat und den er doch nur einmal sah, Ehemann einer klugen Frau, die sich auf dem Kongreß der Demokraten als gute Mutter und Hausfrau darzustellen wußte, Bruder einer Schwester, die in Heidelberg studiert hat, kommt da nicht ein Enkel John Waynes sondern ein Weltbürger in dieses Amt. So sieht alles nach einem amerikanischen Traum aus, der Junge hat den Alten besiegt, der Kluge die Dumme.
Als mich im Fahrstuhl in Chicago ein älterer Amerikaner sehr besorgt darauf hinwies, daß mit Obamas »Sozialismus« gegen die Gründungsidee der USA verstoßen würde, konnte ich ihn nur damit trösten, daß jeder Präsident eine Realität vor sich habe, die ihm wohl nur kleine Schritte erlauben würde. Ein großer Teil der Wirkung ist psychologisch gewesen, gegen Bush, doch wofür wirklich, das muß sich wohl erst zeigen. Im Interview erklärte der Anwalt Obama, er würde Bin Laden »killen«, Wahlkampf oder Überzeugung? Jo Biden sprach in einer bemerkenswerten Rede am Vortag der Wahl von zwei Zielen, den Mittelstand und das Ansehen der USA in der Welt wiederherzustellen, auch den Irakkrieg zu beeenden. Man hofft darauf und fragt sich, welche Intelligenz sich in der Idee zeigt, den Krieg in Afghanistan ausbauen zu wollen, den hatte der russische Funktionär immerhin beendet, weil er sinnlos war.
Und doch sind die Hoffnungen groß, waren sich 75 Nobelpreisträger und Bruce Springsteen einig, daß Barack Obama die beste mögliche Wahl wäre. Im Überschwang der Freude hat man Obama mit Lincoln verglichen und mit Roosevelt, den zwei großen Präsidenten, die das Land erwählte, als es im Bürgerkrieg und später der Depression am Rande des Abgrunds stand. Die Geschichte wird zeigen, ob das richtig ist, sowohl das Ausmaß der Krise als auch die Persönlichkeit des Präsidenten betreffend. Man hofft mit ihm, und angesichts der sich aufdrängenden Vergleiche mit Kennedy und dessen Familie, daß Gore Vidal unrecht haben möge, der sich fast sicher war, daß Obamas Leben in Gefahr sei. »The hope rises again and the dream is on«, so Edward Kennedy im August. Es ist ein großes Land, und es kann sich aufraffen, der Welt ein Beispiel für große, zukunftsorientierte Politik und friedliche Kooperation zu geben. Es ist so groß, daß es vor allem an sich selbst denkt. »The fight goes on«, so Jesse Jackson, der wohl weiß, daß es einer fortgesetzten demokratischen Bewegung bedarf, um zu erreichen, was nun möglich erscheint. Auf der Wiese des Grant Park war man bereit, die Hoffnungen und Gefühle der Jugend zu teilen und sah das bessere Amerika.