Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

In Montagnola

von Renate Hoffmann

Vogel« nannte ihn Ninon Hesse – ihren schwierigen malenden Dichter und dichtenden Maler Hermann. Er war im Mai 1919 nach Montagnola (Kanton Tessin) gekommen, als »kleiner abgebrannter Literat«, wie er berichtet, »und etwas verdächtiger Fremder, der von Milch und Reis und Makkaroni lebte, seine alten Anzüge bis zum Ausfransen austrug und im Herbst sein Abendessen in Form von Kastanien aus dem Wald heimbrachte.«
In die Villa Camuzzi, der er als »Klingsors Schlößchen« empfand, zog er ein und bewohnte dort vier kleine Stuben, die sich in den kühlen Monaten kaum beheizen ließen. Mangelwirtschaft in der neuen Klause, doch reiche literarische Ernte. Hesse blieb zwölf Jahre in dem wunderlichen Gebäude. Betrachtet man es – mit seinen pittoresken Balkonen, dem neobarocken Geschweif, dem bläßlichen Gelb der Fassaden, eingehüllt in südländisches Blühen und hoch oben über dem Luganer See gelegen – so begreift man des Dichters Beharren.
Hätte er nicht nochmals (zum dritten Mal) eine Gefährtin gefunden, so wäre er wohl in seiner gewählten Einsamkeit und in der Camuzzi-Villa geblieben, beteuert Hermann Hesse. So aber ließ er sich erneut, gedrängt von Freunden und wider eigenes Wollen »den Ring durch die Nase ziehen«. Von eben jener Ninon, geborene Ausländer, verheiratete und später geschiedene Dolbin.
Die beiden bezogen im Sommer 1931 die Villa Hesse; auch Casa Rossa genannt, ihres ehemaligen roten Putzanwurfs wegen. Der Zürcher Hans C. Bodmer ließ das Haus für Hermann H. und nach dessen Vorstellungen bauen und gewährte ihm darin lebenslanges, kostenfreies Wohnen.
In dem »Märchengehäuse«, das in Montagnola noch höher hinauf liegt als die Casa Camuzzi, einen noch schöneren Umblick bietet als diese, war für Hesse alles aufs beste vorgerichtet. Er besaß seinen eigenen Lebens- und Arbeitsbereich, unabhängig und mit separatem Eingang versehen. Zu Ninons Wohntrakt führten in den Etagen Verbindungstüren, und ebenerdig in der Berührungszone befanden sich gemeinsam genutzte Räume. Separation befördert erträgliches Miteinander.
Das vormalige Hesse-Anwesen ist von hoher, dichter, immergrüner Heckenmauer umstellt; das Tor verschlossen. Abweisend. Privatbesitz. Durch die Heckenlücke einen Blick zu erhaschen, gelingt mir nicht.
In der neuen Umgebung gerieten die Darbzeiten mit Milch, Makkaroni und Reis, mit der schmalen Wärmebannmeile vor dem Kamin im Camuzzihaus, die man nicht ungestraft, das heißt nur dauerfröstelnd, verließ, fast in Vergessenheit. Unabhängigkeit hin, Unabhängigkeit her; auch bei geistigem Höhenflug ist Verständigung über profane Bedürfnisse vonnöten. Das Literatenehepaar griff zur Zettelwirtschaft, wie sie schon Goethe und Charlotte von Stein erfolgreich betrieben hatten.
Im Museo Hermann Hesse im Torre Camuzzi liegt ein solches Blättchen, welches von gewachsenem Lebensstil zeugt. Hermann an Ninon, in großen Schriftzügen hingeworfen und für ihren Einkaufsgang bestimmt: »Sollten sich in Lugano Likör-Pralinées finden, dann bitte zuzugreifen.« Und darunter: Ein trällernder Vogel.