Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

dokumentART

von F.-B. Habel

Zum dreißigsten Mal war Neubrandenburg jetzt Schauplatz eines Filmfestivals. Im Jahre 1978 wurde das Nationale Dokumentarfilmfestival der DDR hier installiert, und seit 1992 hat sich das Festival unter dem Namen dokumentART auch dem internationalen Film geöffnet. Dokumentar- und Experimentalfilme, gelegentlich auch ein Spielfilm, werden aus ganz Europa nach Neubrandenburg geschickt. Seit vergangenem Jahr gibt es eine besonders enge Kooperation mit Szczecin, wo dieses Festival offenbar eine größere Wertschätzung als in seiner Heimatstadt genießt. Hier hatte die dokumentART mehr Spielstätten, umfangreichere Nebenreihen und lief einen Tag länger als in Neubrandenburg. Wenn sich Szczecin als Kulturhauptstadt Europas bewirbt, steht dieses Festival oben an. In Neubrandenburg hingegen wird der Geldhahn immer weiter zugedreht. Die wenigen Sponsoren zeigten nicht einmal Interesse an der feierlichen Eröffnungsveranstaltung. Hier lief Thomas Heises Gewinner der Leipziger »Silbernen Taube« des Vorjahres Kinder. Wie die Zeit vergeht über das ganz normale Alltagsleben in Halle-Neustadt und Leipzig, dessen Protagonisten die Filmemacher schon für frühere Projekte besucht hatten. Inzwischen fast erwachsen: das schwierige Kind Tommy, ein Tunichtgut. Der nun achtzehnjährige Tommy Gleffe war nach Neubrandenburg gekommen und berichtete, daß er kurz nach den Dreharbeiten doch noch von der Schule flog. Trotzdem ist es ihm gelungen, im September eine Ausbildung zu beginnen. Leichter Optimismus kommt auf.
Der ungarische Film war in Neubrandenburg und Stettin in diesem Jahr mit einigen Beiträgen vertreten, die an einstige innovative Filmtraditionen des kleinen Landes anknüpften. Atemberaubend, wie András Salamon in A város ritmusa (Rhythmus der Stadt) einen jungen Schlagzeuger durch Budapest begleitet. Die gelungene Kombination von Fotografie, Musik und Montage war der Jury den Hauptpreis wert.
Schade, daß das sehr sinnliche Experiment Letünt világ (Verlorene Welt) von Gyula Némes bei der Preisvergabe übersehen wurde. Der Film verbindet die Beobachtung der Bewohner einer Budapester Armensiedlung mit der Aufnahme eines Amateurblasorchesters, das ausgerechnet Beethovens Egmont-Ouvertüre probt. Das ist sowohl witzig als auch bitter, wenn das bunte, unkonventionelle Leben der am Rande der Gesellschaft lebenden den hochfliegenden Plänen eines Investors weichen muß.
Obwohl mit Filmen aus Dänemark, Rußland und Schottland starke Konkurrenten am Start waren, zeigten sich die Polen auf besonderer Höhe. Die Rolle von Rockmusik im Zusammenhang mit dem Kampf gegen eine undemokratische Gesellschaft in Europa hob der polnische, überwiegend in Weißrußland gedrehte Film Muzyczna Partyzantka (Musikalischer Partisanenkampf) hervor. Die Hoffnung, daß der Film über ideologische Grenzen ausstrahlt, scheint jedoch trügerisch. Letztlich bleiben die Oppositionellen unter sich. Daß Lukaschenko ein Unrechtsregime errichtet hat, wird immer wieder überzeugend behauptet, aber die Konfrontation der alternativ Protestierenden mit Andersdenkenden bleibt bis auf eine Auseinandersetzung mit der Polizei aus. Immerhin erhielt er den zweiten Hauptpreis sowie NDR-Publikumspreis und den der deutschen Studentenjury. Der dritte Preis ging mit Kamienna Cisza (Steinerne Stille) wiederum an einen polnischen Beitrag ging. Regisseur Krzystof Kopczynski griff den Fall der Steinigung einer jungen, nordafghanischen Frau auf, die Ehebruch begangen hatte. Das kleine Festivalkino Latücht war stets dicht gefüllt, und man kann nur hoffen, daß dieses Interesse auch die Stadtväter veranlaßt, das Festival nicht nur mit Lippenbekenntnissen zu unterstützen.