Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 27. Oktober 2008, Heft 22

Ringelnatz

von Klaus Hammer

Er begann unter seinem richtigen Namen Hans Bötticher als seriöser Dichter mit Gedichten (1910) esoterisch-sentimentaler Prägung. Aber schon 1912 folgte der Gedichtband Die Schnupftabaksdose, das aus dem Sprachwitz schöpfende und Unsinnserhellung betreibende Gegenstück zu den Galgenliedern Christian Morgensterns, im Untertitel treffend als »Stumpfsinn in Versen und Bildern« charakterisiert.
Seine künstlerische Laufbahn begann er in der Schwabinger Künstlerkneipe Simplicissimus, wo er als Hausdichter und Kabarettist tätig war. 1920 erhielt er ein Engagement an der Berliner Kleinkunstbühne Schall und Rauch von Hans von Wolzogen. Er unternahm Tourneen im deutschsprachigen Raum und trug seine eigenen Dichtungen unter dem 1919 gewählten Namen Ringelnatz vor – der seemännischen Bezeichnung für das Glück bringende Seepferdchen, dieser Name sollte ihn schützen wie eine »Tarnkappe«.
Zeitlebens wollte der 1883 in Wurzen (Sachsen) geborene Ringelnatz anders sein, als er sich gab. Aber er war rettungslos auf sich selber zurückgeworfen. Das hat er in grotesken lyrischen Figurationen ebenso rücksichts- wie rückhaltlos ausgesprochen. So in den beiden Bänden von 1920, den Turngedichten und Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid. Die Turngedichte geben sich so, als ob sie der jeweiligen Turnübung synchron liefen. Jede einzelne Übung oder Sportart wird in Richtung der ihr innewohnenden Möglichkeiten übersteigert. Dabei wird das Groteske an den Punkt getrieben, an dem es in schieren Irrsinn umschlägt. Das Gedicht bricht in dem Augenblick ab, in dem sein Gegenstand zerbricht. Es ist, in übertragenem Sinne, ein Salto mortale mit tödlichem Ausgang. Zugleich sind diese Groteskgedichte durchweg literarische Parodien: Ringelnatz nutzt tradierte literarische Formen, Reminiszenzen, Assoziationen, Zitate und Fehl-Zitate, um im Medium des Turnens seine Zeit insgesamt lyrisch zu attackieren.
In dem Gedicht Während der Riesenwelle wird nicht nur ein gehobener poetischer Ton ad absurdum geführt, sondern auch eine spezifische windmacherische Variante wilhelminischen Heroismus, die, wie Ringelnatz beklagt, auch in den zwanziger Jahren noch nicht ausgestorben ist und künftiges politisches Unheil braut. Gelegentlich verwendete er die Form des Rollengedichts, um Leid, Groll, Angst, Hoffnung artikulieren zu können. Den täglichen Existenzkampf meistern seine Außenseiter und Armen mit einem Mundwerk, das sich um Konventionen und Etiketten wenig schert.
Das Rollengedicht wird schließlich an eine andere Figur delegiert, das andere Ich des Dichters, die »Tarnkappe«, die nicht verbirgt, sondern enthüllt: den Seemann Kuttel Daddeldu. Mit den moritatenhaften Seemannsliedern, in denen der Titelheld von wilden Seefahrten und nicht weniger chaotischen Binnenlandaufenthalten in Hafenkneipen, Bordells, bei der festen Braut Marie, die aus Bayern stammt, und Kindern in aller Herren Ländern Bericht gibt, tingelte Ringelnatz in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren quer durch Deutschland. Die Moral, die sich auf diese Welt beziehen läßt, ist banal und nüchtern, zuweilen zynisch und brutal: Du mußt die Leute in die Fresse knacken…/Und wenn du siegst: so sollst du traurig gehen,/Mit einem Witz. Und sie nicht wiedersehen.
Kuttel Daddeldu sieht alles wie zum ersten Mal. Er ist von überwältigender Kindlichkeit, die keine Hemmungen, keine Tabus kennt. Die spezifische Art seines »Realismus« besteht darin, daß er erkennt, daß die Realität ganz anders ist, als wir glauben, nämlich chaotisch, unkontrollierbar, undurchschaubar. Diese Kindlichkeit ist – das zeigen dann auch das Geheime Kinder-Spiel-Buch (1924) und das Kinder-Verwirr-Buch (1931) – nicht liebenswert, sondern bösartig, ja grausam. Durch diese Kindlichkeit ergibt sich ein Gefälle zwischen Kuttel Daddeldu und der Umwelt, in das er sich immer wieder von neuem verirrt. Wo immer dieser Seemann auftaucht, wird die bürgerliche Welt, ja die Ordnung schlechthin, aufgestört. Daß seine Kindlichkeit dann immer wieder in Brutalität umschlägt, daß alle Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, auch darin liefert Ringelnatz ein Bild der Welt in grotesker Darstellung.
Die innere Misere der Weimarer Republik läßt sich aus Ton, Thematik und Tendenz seiner Gedichte aufs Genaueste erschließen. Eigene Verworrenheit und Lust am Verwirren bedingen einander wechselseitig. Je mehr sich Ringelnatz auf sich selbst, dickhäutig, aber hochgradig schmerzempfindlich, zurückzieht, desto stärker wird er zum Medium seiner Epoche.
Im öffentlichen Bewußtsein hatte sich Ringelnatz zwar das Image eines Komikers und Humoristen geschaffen, als ernsthaften Dichter hat ihn dabei aber kaum jemand wahrgenommen. Erich Kästner hat das schon 1924 bedauert: »Es ist so traurig, daß sich die meisten gewöhnt haben, über Ringelnatz als einen Hanswurst und Suppenkaspar zu lachen. Erkennen denn so wenige, daß man keine Kabarettnummer, sondern einen Dichter vor sich hat? … Ringelnatz ist ein Dichter. Und bei Gott kein geringer.«
Das beweist auch augenscheinlich das Große Lesebuch, das der Fischer Taschenbuchverlag jetzt zum 125. Geburtstag dieses Verfassers phantastisch-grotesker Lyrik herausgebracht hat. Im Unterschied zum Beispiel zu Döblins Berlin Alexanderplatz werden bei Ringelnatz keine Handlungsangebote gemacht, er empfiehlt keine politische Therapie gesellschaftlicher Mißstände. 1933 erhielt er Auftrittsverbot, und seine Werke wurden als »undeutscher Schmutz« bei den Bücherverbrennungen ins Feuer geworfen. Er starb verarmt 1934 an einer Lungenkrankheit in seiner Berliner Wohnung am Sachsenplatz.

Joachim Ringelnatz: Das große Lesebuch. Originalausgabe, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt am Main 2008, 320 Seiten, 8 Euro