Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 13. Oktober 2008, Heft 21

Montage der Attraktionen

von F.-B. Habel

Der Geist des Aufruhrs schwebte über dem russischen Lande. Irgendein gewaltiger und geheimnisvoller Prozeß vollzog sich in zahllosen Herzen: Es lösten sich die Bande der Furcht, die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf.« Dieses Zitat aus Leo Trotzkis Schrift Rußland in der Revolution über das Jahr 1905 stand ursprünglich als Motto dem legendären Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin voran. Als Trotzki zur Unperson wurde, ersetzte man das Motto durch ein Lenin-Wort. Regisseur Sergej Eisenstein, der vor 110 Jahren in Riga geboren wurde und vor sechzig Jahren in Moskau starb, hatte mit seinem Revolutionsfilm eins der größten Filmkunstwerke aller Zeiten geschaffen, das Generationen von Filmemachern beeinflußte. Ganz im Sinne des Trotzki-Zitats wurde bei ihm die Masse zur Heldin, löste den historischen Prozeß aus und agierte als treibende Kraft der Geschichte. Axel Eggebrecht konstatierte damals in der Weltbühne: »Ohne die geschulten, gewordenen, herangewachsenen Kräfte einer kollektiven Masse war Eisensteins Arbeit unmöglich. Man vergleiche die Massen in der ›Madame Dubarry‹ oder in ›Intolerance‹ mit diesem russischen ›Volk‹, das — und grade darin zeigt sich ja das, von unsern Rußland-Gegnern völlig verkannte, lösende Element des Kollektivismus – unendlich viel gegliederter, bewegter, ›individueller‹ durchgestaltet ist als die Statistenmassen des Westens …« (Weltbühne, 19/1926) Auch Eisenstein selbst äußerte sich in der Weltbühne: »Unsre Filme handeln niemals von einem Einzelnen oder einem Dreieck. Wir wollen die Masse zeigen, nicht den Schauspieler. Dies ist eine Auswirkung des kollektivistischen Geistes, der überall im Lande herrscht. Auch wollen wir niemals Teilnahme für das Leben der handelnden Personen im Drama erwecken. Es wäre dies ein Zugeständnis an das Gefühl. Das Kino kann eine viel größere Leistung, einen weit stärkern Eindruck erzielen, wenn es Dinge und Körper projiziert und nicht Gefühle.« (Weltbühne, 49/1927)
Eisensteins Hauptwerk über die Meuterei auf einem zaristischen Kriegsschiff war anläßlich des 20. Jahrestages der russischen Revolution von 1905 entstanden. Der Regisseur führte hier das von ihm aufgestellte Prinzip der »Montage der Attraktionen«, die in diesem Falle Herrschende und Beherrschte polemisch gegenüberstellt, zur Meisterschaft. Die Ausstellung emotionaler Momente kann beim Zuschauer politische Einsichten bewirken – so die feste Überzeugung Eisensteins. Dabei war es zwangsläufig, daß der Film außerhalb seines Ursprungslandes einerseits als Lehrstück filmischer Rhythmik und Dynamik gefeiert, aber auch von der Zensur behindert und verboten wurde. Es gelang Zensoren, durch Veränderung der Montage und der Zwischentitel Versionen zu erstellen, die eine politisch gegensätzliche Wirkung anstrebten.
Ein besonderes Kapitel ist das der Zensur dieses Films in Deutschland, wo er 1926 in die Kinos kommen sollte. Der Revolutionsfilm wurde von der deutschen Verleihfirma Prometheus bereits vor der Zensurvorlage verändert, um eventuellen Auflagen zu begegnen. Kürzungen, aber auch Veränderungen der deutschen Zwischentitel machten das möglich..
Auf Betreiben von Justiz- und Reichswehrministerium, die im Hintergrund agierten, verlangte die deutsche Zensur jedoch weitere Schnitte. So wurden alle Szenen, in denen Offiziere von den aufständischen Matrosen über Bord geworfen wurden, eliminiert. Auch die Szenen des Blutbades an und auf der Treppe wurden geschnitten. Tote oder Sterbende, über Verletzte eilende Beine durften nicht zu sehen sein. Der gesamte Szenenkomplex mit dem Kinderwagen – heute ein wichtiger Teil der Ikonographie des internationalen Films – fehlte in dieser Fassung.
»Der einschneidendste Punkt der Abänderungen bestand im Versuch, die lebendige Verklammerung der Revolution von 1905 mit der des Oktobers zu kaschieren, und damit die im Film erörterten und tendenziös vorgeführten Ereignisse nicht als ein Kettenglied der revolutionären Arbeiterbewegung Rußlands, sondern als eine irgendwie zufällige, untypische Meuterei mit neutralem historischen Hintergrund erscheinen zu lassen«, konstatierten Sergej Eisenstein und sein Kameramann Eduard Tissé 1926 in einem Zeitungsaufsatz.
Der Film, der zeitweise einem kompletten Verbot anheimfiel, hatte gerade unter linken Intellektuellen in Deutschland, darunter Lion Feuchtwanger, Klabund, Max Liebermann, Heinrich Zille, Leopold Jessner, Alfred Kerr, Hans J. Rehfisch und Johannes R. Becher, vehemente Anhänger, die es mit Protestdemonstrationen und publizistischer Hilfe schafften, das Verbot wieder aufzuheben – nur leider unter weiteren Kürzungen und Änderungen des sprachlichen Wortlauts der Zwischentitel. Über die Wirkung der gekürzten Fassung schrieb der renommierte Kritiker Herbert Ihering im Berliner Börsencourier: »Nicht einmal das Wort ›Proletkult‹ darf im Texte vorkommen, obwohl es sich nur auf die Mitwirkenden des Films bezieht. (…) Über Textänderungen läßt sich streiten, über die Bildschnitte läßt sich nicht streiten. Man sieht zwar am Anfang noch, daß der schlafende Matrose sich gequält umdreht. Warum? Scheinbar träumt er schwer. (…) Der Knutenhieb, der ihn getroffen hat, ist weggeschnitten. Kein Offizier, nicht einmal der Schiffsarzt wird ins Wasser geworfen, kein Kneifer hängt mehr in den Tauen. Und die Kosaken? Sie marschieren noch die Treppe hinunter. Aber schießen sie noch? Man kann es kaum sehen. Fällt jemand? Schon ist es vorüber. (…) Fast alle Großaufnahmen fallen weg. Der ganze Aufbau, die phänomenale Steigerung, der Wechsel der Einzel- und Massenbilder, der Kontrast des dröhnend ruhigen Kosakenmarsches und der aufgestörten Bevölkerung, der Rhythmus, die aufpeitschende Gewalt – alles ist weg. Es ist das beste Zeugnis für den Wert des Films und den Unwert der Bearbeitung, daß mit der Vernichtung der menschlichen Gesinnung auch die künstlerische Wirkung dahin ist. Eisensteins Werk ist für Deutschland ruiniert.«
Dabei hatte Eisenstein in Berlin selbst dafür gesorgt, daß die Szenen trotz der angeordneten Schnitte ausdrucksstark blieben, und hatte einige Umstellungen vorgenommen. Hinzu kommt, daß Eisenstein den ihm bekannten Komponisten Edmund Meisel bat, nach seinen Vorstellungen eine Original-Filmmusik zu komponieren, die es bislang nicht gegeben hatte. Dieser Musik war es auch geschuldet, daß Panzerkreuzer Potemkin von Berlin aus einen Siegeszug um die Welt antrat.
Um so verdienstvoller ist es, daß jetzt auf DVD eine von Enno Patalas in Zusammenarbeit mit internationalen Archiven detailgetreu rekonstruierte Fassung des Films vorliegt, zu dem erstmals Edmund Meisels für die deutsche Erstaufführung im Berliner Apollo-Theater geschaffene Musikfassung rekonstruiert werden konnte. Der Film wird endlich mit seiner Original-Geschwindigkeit vorgeführt, und es kostete den musikalischen Leiter Helmut Imig viel Einfühlungsvermögen, die Musik auf diese Fassung anzupassen. Damit ist das vielfach veränderte Meisterwerk jetzt endlich in einer dem Original entsprechenden Fassung zu sehen. Aber Achtung! Man sollte nicht versehentlich die von ICESTORM herausgegebene DVD kaufen. Hier hat man eine Fassung in verminderter Bildqualität mit fehlenden Sequenzen und einer Musik, die den Filmeindruck eher beschädigt als befördert.

Panzerkreuzer Potemkin – Das Jahr 1905, DVD von Transit Classics bei Universum-Film, 22,95 Euro