Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 13. Oktober 2008, Heft 21

Den Wandel denken

von Erhard Crome

Der Fortschritt sei für alle Zeiten gesichert und werde sich unablässig fortsetzen, meinte zur vorigen Jahrhundertwende, die ins 20. Jahrhundert führte, in Europa und Nordamerika eine Mehrheit der Menschen. Gewiß, viele Sozialisten erwarteten einen Zusammenbruch des Kapitalismus, doch die meisten Menschen gingen nicht zu Unrecht davon aus, daß Kapitalismus, Industrie und wachsender Wohlstand miteinander zu tun hatten.
Der Erste Weltkrieg stellte eine jähe Unterbrechung dar, doch danach ging es wieder aufwärts. In den USA versprach im Wahlkampf 1928 der republikanische Kandidat Herbert Hoover ein baldiges Ende der Armut und den Amerikanern »ein Huhn in jedem Topf und ein Auto in jeder Garage«. Er fuhr einen gewaltigen Wahlsieg ein. Am 24. Oktober 1929 begann der Große Börsenkrach, der die Weltwirtschaftskrise auslöste.
In den fünfziger und sechziger Jahren führten die fordistische Massenproduktion, einschließlich Auto und Elektrotechnik, sowie Lohnanstieg und Wohlfahrtsstaatlichkeit zu einer sichtbaren neuen Prosperität, die wieder von vielen als Beginn einer immerwährenden angesehen und als globales Erfolgsmodell gepriesen wurde. Mit der Ölkrise begann in den siebziger Jahren zwar eine Rezession, doch in der Folge unterlag der Realsozialismus im globalen Wettbewerb. Mit der Charta von Paris wurden 1990 Demokratie und Marktwirtschaft zu den allgemeinen Grundlagen der Staaten Europas erklärt. Der Kapitalismus sah sich als Sieger im Felde. Der Neoliberalismus verkaufte seinen Paradigmenwechsel zu Lasten von Wohlfahrtsstaat beziehungsweise Sozialstaat und zum Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge als Konsequenz dieses »Sieges«.
Das alles gehört nun wohl der Vergangenheit an. »Vorhang für die Könige der Wall Street«, titelte die Frankfurter Rundschau. Mit Goldman Sachs und Morgan Stanley hatten die beiden letzten großen Investmentbanken der USA das Handtuch geworfen. Die Seniorin aus den gehobenen Kreisen Berlins, die im vorigen Jahr ihre Ersparnisse in Höhe von 140000 Euro auf Anraten ihrer Bank in »Finanzprodukten« von Goldman Sachs angelegt hatte, steht dumm da: Die deutschen Bankenabsicherungen greifen da – zumindest bisher – nicht. In der Süddeutschen Zeitung heißt es: »Der Turbokapitalismus frißt seine Kinder, seine Künder und deren Derivate.« Nachdem jahrelang staatliche Eingriffe verschrien wurden, kommen jetzt ganz andere Töne: »Denn das Desaster, dessen Zeuge wir werden«, so weiter die Frankfurter Rundschau, »haben unregulierte Finanzprodukte angerichtet, die auf unregulierten Märkten von oftmals unregulierten Vehikeln wie Hedge-Fonds oder Zweckgesellschaften gehandelt worden sind.«
Das niederländische NRC Handelsblad stellte die jetzige Finanzkrise in eine eigene historische Dimension: »Der Nachsommer 2008 wird in die Geschichte eingehen als der Moment, an dem die letzte politische Ideologie des 20. Jahrhunderts ihren Untergang erlebte. Rund zwanzig Jahre nachdem der Kommunismus definitiv besiegt schien, erscheint auch der Sieger von damals als Verlierer. Beide Lager des Kalten Krieges haben versagt. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sich der Bankrott auskristallisiert. Dann wird das 20. Jahrhundert definitiv vorbei sein, genauso wie es bis 1914 dauerte, bis das 19. Jahrhundert vorbei war.«
Was aber bedeutet das? Als die US-Investbank Lehman Brothers an ihrer Pleite werkelte, zog sie schnell noch acht Milliarden Dollar aus der Londoner Filiale ab, die nun nicht mehr ihre Mitarbeiter bezahlen konnte, während für die New Yorker Mitarbeiter ein Topf für Bonuszahlungen in Höhe von 2,5 Milliarden zurückgestellt wurde. »Das ist Sozialismus für die Reichen«, zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Vorsitzenden des Finanzausschusses des Parlaments in London.
Aber der Sozialismus für alle, oder zumindest »für die Armen«, ist ja nicht zufällig vor zwanzig Jahren von der Bühne abgetreten. Das ist nicht dadurch außer Kraft zu setzen, daß man den »Sozialismus der Reichen« skandalisiert.
Man kann sich natürlich darüber mokieren, daß es die oben erwähnten Illusionen über die immerwährende Prosperität unter dem Kapitalismus immer wieder gab. Sie sind jedoch nicht zufällig mit tatsächlichen Prosperitätsphasen zusammengefallen. Bestimmte Lernprozesse wurden ebenfalls immer wieder unternommen. Daher jetzt die großen Stützungsversuche der US-Regierung – dort in Höhe von 700 Milliarden Dollar – oder auch der EU – hier ist von zunächst 300 Milliarden Euro die Rede. Eine zweite Weltwirtschaftskrise wollen alle vermeiden, weil feststeht: Im Zweifelsfalle zahlen die »kleinen Leute« die Zeche, während der »Sozialismus für die Reichen« sich fortzeugt.
Wir sollten deshalb einer »Zusammenbruch«-Theorie nicht folgen, einen solchen der Menschen wegen nicht erhoffen sondern eher befürchten. Rainer Land und Ulrich Busch haben dieser Tage gefragt (Berliner Debatte Initial, Heft 4/2008): »Können wir mit einer Erholung, gar mit einer neuen Prosperitätsphase rechnen? Mit einem neuen gewaltigen Innovations- und Wachstumsschub, der die Welt noch einmal ebenso stark verändern und verbessern wird, wie es die amerikanisch-europäische Revolution der industriellen Massenproduktion und der produktivitätsorientierten Lohn- und Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg taten? Werden die Löhne wieder steigen, das Sozialsystem repariert und umgebaut werden? Wird der Aufstieg Chinas und Indiens vielleicht doch nicht zu einem Kollaps wegen Umweltbelastungen führen? Leuchtet am Horizont gar ›Eine Welt‹ mit einer neuen Industrie ohne CO2-Emissionen, mit Autos, die in China, Amerika, Afrika und Europa lautlos von Elektromotoren getrieben durch die Straßen gleiten und in der Flugzeuge durch elektronengetriebene Magnetschwebebahnen mit Mach 3 abgelöst sind, für die Strom und Wasserstoff aus Sonnenbatterien über Wasserstoffpipelines in der Sahara geliefert wird? Gelingt es gar, Armut und Hunger, Unterentwicklung und Elend zu überwinden?«
Wir wissen es nicht. Es kann sein, es kann auch nicht sein. Nach den Kenntnissen, die wir über die langwelligen wirtschaftlichen Zyklen (von je 56 Jahren) nach Kondratieff und Schumpeter haben, beginnt die neue Kondratieff-Welle im Jahre 2008 – und dann wäre auch die Finanzkrise Teil dieses Übergangs.