Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Wer transformiert das historische Bewußtsein?

von Martin Bemmann

»Transformation des historischen Bewußtseins«. Das klang interessant, und ich suchte sogleich nach diesem Artikel im neuesten Blättchen (Nr. 15/2008). Interessant war die Lektüre denn auch für mich, doch ganz anders, als ich es mir gedacht hatte.
Jochen Mattern verfolgt in seinem Artikel die Absicht zu zeigen, daß das Bild, das in der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik von der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vorherrscht, gezielt verändert werden solle. Die Rede von den beiden Diktaturen auf deutschem Boden sei so etwas wie ein Taschenspielertrick und verfolge vor allem ein Ziel: »Dämonisierung der DDR auf der einen, Relativierung der NS-Geschichte auf der anderen Seite«. Die Zäsur von 1989 werde absichtlich in den Vordergrund gestellt, um diejenige des Jahres 1945 kleinzureden.
Das Erinnern an Auschwitz führe zu einer »gebrochenen Identität« (der Deutschen? Was ist deutsche Identität?). Dies wiederum stehe der Normalität der neuen Bundesrepublik, der »Berliner Republik« entgegen, weshalb die kritische historische Erinnerung möglichst unterbleiben oder zumindest relativiert werden solle. Und noch mehr: Erweckt werde sogar noch das »Interesse an Kontinuität und Tradition« in der deutschen Geschichte, ohne deren zivilisatorischen Brüche (vor allem der NS-Zeit) zu beachten; es seien nunmehr »wieder Stolz auf das Vergangene sowie Nachahmung geboten«.
Nach der Lektüre war ich zunächst vor allem eins: verwundert. Ich las den Artikel noch zweimal, an mir selbst zweifelnd. Denn schließlich vermutete ich eine Unaufmerksamkeit bei mir und nicht beim Autor. Doch meine Verwunderung war berechtigt. Trotz allen Suchens fand ich nämlich kein Subjekt in diesem Text: Wer, bitteschön, veranstaltet diese Umformung des historischen Bewußtseins?
Mattern schreibt von geschichtspolitischen Kampagnen, die zur »Legitimierung aktueller politischer Zwecke« ausgenützt würden. Doch wer macht das? Kampagnen entstehen und tragen sich ja nicht von selbst. Verdächtigt er Jürgen Habermas als Drahtzieher hinter all diesen Geschichtsverbiegungen? Zumindest ist der Name des Philosophen der einzige, der im Text auftaucht. Ich bin leider viel zu wenig mit dessen Werk vertraut, als daß ich wüßte, ob nur die Begriffe, die Mattern vor dem Namen Habermas’ nennt, diesem zuzurechnen sind, oder ob auch die Ausführungen, die darauf folgen, auf ihn zurückgehen. Ich kann nur vermuten, glaube jedoch annehmen zu dürfen, daß Mattern selbst Habermas nicht einen solchen Einfluß zutraut.
Geschichtspolitische Kampagnen müssen demzufolge also von jemandem anderen veranlaßt und gesteuert werden, jemandem, der ein Interesse an deren Ausgang hat. Da kommen mir mehrere in den Sinn, denn anders als im Nationalsozialismus oder der DDR (eine Gemeinsamkeit dieser beiden politischen »Systeme«!) gibt es heutzutage mehrere politische Kräfte, die öffentlich solcherart Kampagnen lancieren könnten. Mattern nennt jedoch keine, so daß der Schluß gezogen werden könnte, er meine alle relevanten politischen Kräfte in Deutschland. Dies kann ich mir jedoch ebenfalls nicht vorstellen. Für eine Aufklärung wäre ich sehr dankbar, denn als Historiker würde ich mich über Einblicke in die Werkstatt von Geschichtsbildnern freuen. Nicht verstanden habe ich Matterns Bemerkung, daß die Betonung der Zäsur von 1989 diejenige von 1945 relativieren solle. Seine Beurteilung, DDR-Geschichte solle diffamiert werden, kann ich noch nachvollziehen, auch wenn ich es nicht so ausdrücken würde und die Pauschalität der Aussage für falsch halte. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen den beiden genannten Umbrüchen, außer demjenigen, daß es ohne 1945 kein 1989 gegeben hätte?
Im nächsten Jahr feiert die Bundesrepublik ihr sechzigjähriges Jubiläum. Ohne das Kriegsende vom 8. Mai 1945 hätte es keine Verabschiedung des Grundgesetzes rund vier Jahre später gegeben. Schon allein aus diesem Grund wird diese politische Zäsur in den Vordergrund gerückt werden müssen, allen personellen, institutionellen und argumentativen Kontinuitäten, die die westdeutsche (aber auch die ostdeutsche!) Geschichte nach 1945 prägten, zum Trotz. Auf was sollten sich die Vertreter der Bundesrepublik denn sonst berufen? Jeder, der öffentlich anderes verkündet, würde sich doch selbst disqualifizieren! Auch hier würde ich mich (und vielleicht auch andere Blättchen-Leser?) über eine Erklärung freuen!