Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Japan-Blick, makrobiotisch

von Kathrin Schink

Makrobioten mögen anderen Menschen zuweilen etwas seltsam vorkommen, denn sie legen auf eine besondere Art Wert auf ihr Essen. Bereits die Auswahl ihrer Nahrungsmittel gehen sie philosophisch an: Zusätzlich zu den bekannten Bausteinen einer gesunden Ernährungsweise achten Makrobioten auf das Verhältnis der Nahrungsmittel, die sie verzehren, zueinander.
Im Vollkorngetreide sehen sie ihr Hauptnahrungsmittel, sind dabei keine Vegetarier, legen aber Wert darauf, tierische Produkte lediglich hin und wieder zu sich zu nehmen. Zucker lehnen sie in ihrer Ernährung vollständig ab. Es geht ihnen um die vollständige Verwertung der Ressourcen – für sich selbst und auch mit der weiterreichenden Vision der universellen Gerechtigkeit. »Das ganze Leben muß gegessen werden« – so lautet einer der Grundgedanken der Makrobioten.
Als Begründer dieser Lebenshaltung gilt ein Japaner: Nyoiti Sakurazawa (1893-1966), der sich später, um es den Nicht-Japanern mit seinem Namen einfacher zu machen, George Ohsawa nannte. Der Verbreitung seiner Theorie, die auf der orientalischen Ernährungsweise und Medizin beruhte, jedoch auch Komponenten der westlichen Wissenschaft enthielt, widmete er einen Großteil seines Lebens.
Klar, daß eine Makrobiotin einen Japan-Besuch aus einem ganz besonderen Blickwinkel unternimmt. Was ist aus den Ansichten Ohsawas in seinem Heimatland geworden – in Japan, das er mit dem dort typischen Ernährungsmix aus Reis, Gemüse, Fisch, Meeresfrüchten, Soya und nur wenig Fleisch stets als die Wiege der Makrobiotik bezeichnet hat?
Kaum in Osaka gelandet und sofort umgeben von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit, war ich heftig überrascht davon, das Klischee vom »kleinen Japaner« nicht erfüllt zu sehen: Tatsächlich trifft es in der älteren Generation noch zu. Die meisten Jüngeren sind jedoch deutlich größer als ihre Eltern und Großeltern, haben oft schon westliche Körperlänge erreicht.
Eine Erklärung fand ich schon bald in Kyoto, beim ausgelassen gefeierten Hanami, dem Kirschblütenfest. Die allgegenwärtigen Picknickkörbe begeisterten mich in ihrer Ästhetik – und überraschten mich in ihrem Inhalt. Wohlschmeckend alles, aber so ganz anders, als es Ohsawa einst beschrieb und für vorbildlich hielt. Die Supermärkte, in denen es die fertigen Körbe zu kaufen gibt, sind viel zu reichhaltig bestückt mit Süßem und Kalorienhaltigem, um noch etwas mit den Ohsawa-Ideen zu tun zu haben.
»Die Quantität verändert die Qualität« – diese zentrale Aussage Ohsawas sah ich plötzlich bestätigt. Auch das gesündeste Nahrungsmittel, im Übermaß genossen, läßt Körper schneller in die Breite und Länge wachsen, als es der Gesundheit zuträglich ist.
Zucker, hatte Ohsawa einst verkündet, sei der größte Feind eines überwiegend vegetarisch lebenden Volkes. Wenn nun aber die süßen Naschereien so liebevoll hergestellt und als Augenschmaus präsentiert werden wie in Japan, wenn ein Gebäck aus Reisteig mit einer leckeren Füllung aus einer süßen Paste roter Bohnen aussieht wie ein rundum gesunder Fisch – wie soll da Ohsawas Beschwörung der Selbstbeschränkung eine Chance haben?
Zuckerkonsum, so hatte Ohsawa gewarnt, werde zu einem übermäßigen Wachstum der Röhrenknochen und schlaffer Körperhaltung führen. Und wenn er den scheinbar banalen Satz »Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende« formulierte, dann meinte er damit auch, daß der überaus rasche Aufstieg Japans zur auf Hochtechnologie gegründeten Wirtschaftsmacht durchaus etwas mit der Ernährungsweise der japanischen Bevölkerung zu tun hatte.
Bei der Rückkunft auf dem Frankfurter Flughafen beschlich mich leise Melancholie. Der Himmel war bleigrau, von der Freundlichkeit, die zweieinhalb Wochen allgegenwärtig gewesen war, von Kirschblüte und erholsamem Bad in heißen Quellen, von der Betörung köstlich angerichteter Speisen, war nichts mehr zu spüren. Die Melancholie mischte sich mit aufstörenden makrobiotischen Gedanken.
Habe ich in Japan das Phänomen des beängstigend raschen, im Verlauf von nur einem einzigen Generationenwechsel so deutlich sichtbaren Größer- und Schwererwerdens der Menschen in besonderer Schärfe erlebt? Und existiert es in Deutschland nicht auch, weil schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg reichliche Nahrungsaufnahme und ein hoher Zuckerkonsum zu den Zeichen des Wohlstandes gehörten? – Nur, daß es sich in längeren Zeiträumen vollzieht, weil hier traditionell mehr Fleisch und Fleischprodukte verzehrt werden, die ein Gegengewicht zum Zukker darstellen?
Allenthalben wird die zunehmende Übergewichtigkeit mit allen damit zusammenhängenden Problemen beklagt. Vielleicht berauben wir uns gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zukunft, wenn es nicht gelingt, zu natürlicher Gerechtigkeit finden und nur das zu verbrauchen, was wir wirklich benötigen – seien es Nahrungsmittel oder Rohstoffe?