Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Alice im Wunderland

von Michail Gorbatschow, Moskau

Offener Brief an die deutschen Medien:

An meine Freunde, die deutschen Journalisten

Seit einigen Jahren habe ich zunehmend Kontakt zu den deutschen Medien, insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorsitz im Petersburger Dialog, den ich neben Lothar de Maizière innehabe. Selbstverständlich galt und gilt mein Interesse zunächst einmal Berichten über das, was in Rußland geschieht. Dies ist immer wieder Thema für mich in zahlreichen Interviews, Pressekonferenzen und öffentlichen Veranstaltungen. So zum Beispiel bei der Verleihung des Doktor-Haas-Preises letztes Jahr in Berlin.
Worüber habe ich da gesprochen? Darüber, daß Fragen und Unverständnis entstehen, wenn man sieht, WAS in Deutschland über Rußland geschrieben wird und WIE es geschrieben wird.
Nicht von ungefähr habe ich das WIE hervorgehoben. Denn die Fakten, die Anlaß zur Kritik bieten, stammen ja oft aus der Realität oder werden aus russischen Zeitungen übernommen. Übrigens treten russische Zeitungen zuweilen sogar kritischer auf als die ausländischen.
Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Rußland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort.) Diese Thesen werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher scheinen auch keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben.
Mehr noch: Diejenigen, die aus der Reihe tanzen, bekommen das zu spüren. So kürzlich geschehen im Fall der Fernsehjournalistin und Autorin Gabriele Krone-Schmalz nach der Veröffentlichung des Buches Was passiert in Rußland? Der allgemeinen Mode zuwider beschränkte sie sich nicht auf eine Aufzählung der Schattenseiten, sondern führte vielfältige Tatsachen aus dem Leben meines Landes auf, die sich nicht in das Prokrustesbett der modisch gewordenen Anschuldigungen zwängen lassen. Was geschah danach? Erst taten renommierte Zeitungen so, als hätten sie die Buchveröffentlichung nicht bemerkt, dann griffen einige von ihnen die Autorin mit Anschuldigungen an, die an die Kritik aus der Zeit des Kalten Krieges erinnern.
Das ist nur ein Einzelbeispiel, das aber eine Tendenz widerspiegelt. Worum handelt es sich dabei? Woher kommt diese Tendenz? Kürzlich stellte mir ein deutscher Journalist beim Interview eine Vielzahl von Fragen, auf die ich ehrliche Antworten zu finden versuchte. Zum Schluß stellte ich ihm eine einzige Frage – danach, wie die deutsche Presse die Geschehnisse in unserem Land darstelle. Ich fragte ihn: Warum?
Darauf konnte er keine eindeutige Antwort finden. Mir kam es vor, als ob auch er selbst nicht klar wüßte, worauf diese Tendenz zurückzuführen sei. Dennoch gab er zu, daß sie zweifellos existiere.
Was ist der Zweck dieses meines Statements? Ist es als eine Aufforderung zu verstehen, nur Gutes über Rußland zu schreiben, obwohl es bei uns auch viel Negatives gibt? Nein. Man sollte einfach verstehen, daß es einen deutschen und einen russischen Kontext gibt. Man sollte erkennen, daß Rußland nicht umhinkommt, in seiner Entwicklung alle möglichen Hindernisse überwinden zu müssen. Überspringen geht nicht. Wir müssen den ganzen Weg erlaufen und erklimmen.
Russische Medien, das Fernsehen verdienen auch ernsthafte Kritik. Jedoch gibt es bei uns zahlreiche Zeitungen, die heute Glasnost in der Praxis anwenden und frei schreiben. Einem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, daß die Medien – trotz aller Widrigkeiten – immer stärker werden. In den vergangenen Wochen äußerte ich mich in der russischen Presse mehrmals darüber, daß wir das Wahlsystem nach den Wahlen reformieren und es näher an die Anforderungen der Demokratie rücken müssen. Hier bestehen nicht wenige ernstzunehmende Mängel. Der Diskussionsprozeß ist schon im Gange, Rußland bewegt sich vorwärts, es hat nur eine Zukunft – diese Zukunft heißt Demokratie.
Wenn man in Rußland als Korrespondent arbeitet und all diese Prozesse nicht erkennt, dann hat man sich wohl frei nach »Alice im Wunderland« für ein Leben »hinter dem Spiegel« voller Stereotype und Klischees entschieden. Dann empfindet man für die Geschehnisse im Land kein wirkliches Interesse. Ich glaube aber, daß man in einem Land, für das man weder Liebe noch Respekt empfindet, besser nicht als Korrespondent arbeiten sollte.
Kritik ist ein notwendiges Heilmittel. Aber von einer ungerechten, taktlosen Kritik von außen fühlen sich die Menschen in Rußland gekränkt, die gerade erst verspürten, daß ihr Land wieder aufrecht geht, daß sich eine langsame, aber stete Verbesserung der Lebensbedingungen bemerkbar macht. Es wäre schade, wenn sich dadurch das Verhältnis der Russen zu den Deutschen verschlechtern würde. Dieses Verhältnis war ja über die letzten Jahrzehnte hinweg gut.
Ich kann es nicht unerwähnt lassen: Weder Gorbatschow noch Kohl noch Bush und ihre Mitstreiter hätten eine friedliche und rasche Wiedervereinigung Deutschlands erreichen können, wenn das russische Volk, die Bürger Rußlands – allen tragischen Seiten der Geschichte zum Trotz – nicht ein neues Vertrauen zu den Deutschen gefaßt und nicht das Recht der Deutschen auf Einheit unterstützt hätten.
Vor einigen Tagen bekam ich von meinem Freund Hans-Dietrich Genscher, dem ehemaligen deutschen Vizekanzler und Außenminister, ein Glückwunschschreiben zum neuen Lebensjahr. Darin schreibt er: »Mit meinen Gedanken bin ich in dieser durch viele Ungewißheiten geprägten internationalen Situation oft bei Dir. Es wird Zeit, die Stimme zu erheben für Zusammenarbeit und Vertrauensbildung. Wie schwer es ist gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, wissen wir beide wohl am besten. Ich erinnere mich immer wieder an die Zeit, in der im Westen darüber gestritten wurde, ob man Dir vertrauen könne. Aber Vertrauen ist eine kostbare Sache und leicht zerbrechlich. Hier sind wir gefordert und hier können wir etwas tun …« Das war zwar ein persönlicher Brief an mich, aber ich glaube, er hat einen öffentlichen Klang.
Wir sollten unser gegenseitiges Vertrauen zu schätzen wissen.