Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 29. September 2008, Heft 20

Aids im System

von Jörn Schütrumpf

Vor achtzehn Jahren, im September 1990, betrat ein kleiner Mann unsere damalige Redaktion und stellte sich mit den Worten vor: Ich bin Günter Reimann aus New York, ich stamme aus Angermünde und war einmal, 1925 bis 1930, Wirtschaftsredakteur der Roten Fahne. Mich interessiert, was ihr hier treibt. Vielleicht können wir zusammenarbeiten.
Reimann hatte 1947 die in fünfzig Ländern tätige Agentur International Reports on Finance and Currencies samt Wochenzeitschrift gegründet und beides 1983 an die Financial Times verkauft; private Finanzprobleme waren ihm ein Fremdwort. Im Jahr nach seinem ersten Besuch diktierte er in unseren Räumen an mehreren Abenden und zwei Wochenenden einer Sekretärin die zentralen Teile seines Buches Die Ohnmacht der Mächtigen. Das Kapital und die Weltkrise – damals noch in eine Schreibmaschine; Geschichten aus einer versunkenen Welt. Daneben schrieb er einiges auch für unser damaliges Blatt.
Reimann kannte in der Finanzbranche alle, und alle kannten Reimann; nur daß er einmal zur zweiten Riege der deutschen Kommunisten gehört hatte, wußten die wenigsten. In seinem Buch, das Anfang 1993 bei Gustav Kiepenheuer in Leipzig erschien, outete er sich jedoch nicht nur als Sonderbeauftragter der Komintern im Jahre 1932 in Vorbereitung der geplanten Ablösung Stalins durch Bucharin – wie bekannt schreckte Bucharin jedoch zurück, und Tausende bezahlten das mit ihrem Leben, unter ihnen er selbst –, sondern Reimann prognostizierte die heutige Krise: »Das Gewicht der Systemkrise wird zunehmend von der Sphäre der Produktion auf die der Zirkulation des Kapitals verlagert. Das ist eine Tendenz, bei der die Zirkulationskrise auf die Produktionsverhältnisse zurückschlagen wird. Deswegen beginnt eine neue Krise nicht mit der allgemeinen Überproduktion von Waren oder der Marktüberfüllung (fehlende Kaufkraft), sondern mit Mangel an Liquidität im industriellen Sektor, obwohl Liquiditätsüberfluß im Geldmarktsektor besteht. Es gibt zuviel Liquidität  auf internationalen Geldmärkten und zuwenig Liquidität für industrielle Unternehmer, die zumeist nicht genügend ›kreditwürdig‹ für den Finanzsektor sind. Diese Erscheinung schlägt auf die internationalen Währungsverhältnisse zurück. […] Das Damoklesschwert der internationalen Geld- und Kapitalflüsse schwebt über Zentralbanken und Währungsautoritäten aller Länder. Sie versuchen untereinander, eine Art Alarmsystem einzurichten, um gemeinsam rechtzeitig den Folgen übergroßer Geldflüsse von einer Währung in eine andere entgegentreten zu können. Aber wie bei einem Feuer, das in einem Gebäude, gefüllt mit Explosivstoffen, ausbricht, kann das Alarmsystem nur das Ausmaß und die Folgen des Brandes beschränken, aber nicht das Unglück selber verhindern.«
Als 1994 in Berlin und Leipzig anläßlich seines 90. Geburtstages ein Doppelkolloquium ausgerichtet wurde, kam Reimann – der im französischen Exil zwar mit der Komintern, aber nicht mit seinen Überzeugungen gebrochen hatte, auf dieses Thema zurück und war noch optimistischer als in seinem Buch aus dem Jahr zuvor, daß es den USA gelingen werde, die in der Zirkulationssphäre sich überdehnende Blase anzustechen und kontrolliert einfallen zu lassen. Selbst er, der wirklich an Marx geschulte und über Jahrzehnte erfolgreiche Analytiker des Finanzwesens, hatte (wie wir alle in unserer Naivität, was hier aber kaum erwähnt werden braucht) die Rationalität und Selbstzügelung der »Eliten« in Finanz- und Wirtschaftsfragen weit überschätzt. Die vergangenen anderthalb Jahrzehnte haben uns gezeigt, daß durch den Kalten Krieg der Westen zur Vernunft lediglich gezwungen, aber nicht gekommen war; der Fall der Mauer war letzten Endes als eine ersehnte Befreiung von der Vernunft gefeiert worden. Endlich durfte in den entfesselten Irrsinn zurückgestartet werden: Kredite ohne alle Sicherheiten. Das ist in Zeiten von Aids nur vergleichbar mit Promiskuität ohne Kondom.
Dieses Wirtschafts- und Finanzsystem hat ohne Zweifel Aids. Doch alle heimliche Freude über den »großen Kladderadatsch«, an den Marx eine Zeitlang, viele seiner Jünger aber immer noch glauben, ist Unsinn. Dieses System bricht nicht zusammen – solange nicht Mehrheiten es bewußt beseitigen wollen und vor allem wissen, was an seiner Stelle entstehen soll. Vorerst wird wohl Günter Reimann recht behalten: »Aus dem Chaos der internationalen Währungsverhältnisse wird eine neue internationale Goldwährung aufsteigen. Damit werden die strukturellen Krankheiten des Systems nicht überwunden, aber die Überlebenskraft des Kapitalismus zeitweise wieder hergestellt – für eine Generation.«