Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. August 2008, Heft 16

Erich Schmidt

von Mario Keßler

Nun verlassen sie uns, die noch Zeugnis ablegen konnten von einer Arbeiterbewegung, die Hitler die Stirn zu bieten suchte. Zu jenen Aktivisten, die ohne die Scheuklappen der KPD- und SPD-Führung eine Aktionseinheit aller Linken suchten, um Hitler den Weg zur Macht zu verlegen, gehörte Erich Schmidt. Er starb am 22. Juli in Easthampton, Massachusetts, zwei Wochen vor seinem 98. Geburtstag.
1910 in Berlin geboren, erlernte Schmidt den Beruf eines Druckers und trat 1928 der SPD bei. In der Arbeiterbildung wurde er besonders durch den marxistischen Historiker Arthur Rosenberg geprägt, dessen Bücher er mit seinem Freund Richard Löwenthal damals intensiv diskutierte. 1931 wurde Schmidt Vorsitzender der Berliner Sozialistischen Arbeiterjugend. Er schloß sich der Gruppe »Neu Beginnen« an, die innerhalb der beiden großen Arbeiterparteien zu wirken suchte, um die Kluft zwischen ihnen zumindest auf ein rational diskutables Maß zu verengen. Doch die KPD-Führung berauschte sich an der von Moskau inspirierten Losung des Sozialfaschismus, in der SPD hielten viele die Kommunisten für »Kommunazis« – eine kaum weniger gefährliche Verblendung. In Hitlers Zuchthäusern und KZs mußten Kommunisten und Sozialdemokraten auf bitterste Weise erfahren, wer die wirklichen Nazis, die wirklichen Faschisten waren.
Erich Schmidt und seiner späteren Frau Hilde, die ihn überlebte, gelang die Flucht aus Deutschland. In der Schweiz wurde er noch 1933 aus der SPD ausgeschlossen – weil er sich für eine Aktionseinheit mit Kommunisten eingesetzt hatte, ohne auf das Plazet des Parteivorstandes zu warten. Zwar wurde er später rehabilitiert, doch auch im Alter sprach Erich Schmidt davon manchmal mit Bitterkeit – ganz zu Recht. Über Frankreich gelangten die Schmidts 1940 in die USA. Dort schloß sich Erich Schmidt dem Council for a Democratic Germany an. Einmal mehr blieb er sich damit treu: Als aus der Sozialdemokratie gekommener Marxist suchte er ohne Scheuklappen den Kontakt zu anderen Linken. Als Vorsitzender der Friends of German Labor blieb er auch in den USA eine wichtige Kontaktperson zur bundesdeutschen Nachkriegs-SPD.
Das Leben prüfte ihn und Hilde sehr hart: Ihr einziger Sohn, der Literaturwissenschaftler und Büchner-Spezialist Henry Schmidt, starb jung, und die Großeltern mußten auch ihr einziges, lebenslang schwerkrankes Enkelkind betrauern. Woher nahmen beide ihren Lebensmut, ihre ansteckende Fröhlichkeit, die alle Besucher spürten?, fragte ich mich oft. Bei meinen Forschungen zum deutschen linken Exil in den USA waren mir die Schmidts unschätzbare Ratgeber und wurden zu guten Freunden. Erich war eine überaus reiche Persönlichkeit, eine Verbindung – es läßt sich nicht anders sagen – aus Kampfesmut und Noblesse.
Ein reguläres Studium war ihm durch die Zeitumstände, die die Werk-tätigen nicht begünstigten, versagt geblieben. Sein Wissen aber, das er nie zur Schau stellte, übertraf wohl das vieler akademisch Dekorierter. Seine beiden Memoirenbände »Meine Jugend in Groß-Berlin. Triumph und Elend der Arbeiterbewegung 1918-1933« mit einem Vorwort von Willy Brandt (Donath-Verlag Bremen 1988) und »Meine Emigrantenjahre. Berlin–Bern–Paris 1933-1940« (Verlag Jugend und Geschichte Rostock 1994) sind wahre Fundgruben für die Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Exil. Sie sind zudem brillant geschrieben. Eine Neuauflage beider Bücher, die gegenwärtig ins Englische übersetzt werden, wäre auch für eine nachgewachsene Generation in Deutschland, die aus der Geschichte lernen will, ein großer Gewinn.