Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Heimatlose Kanzlerin

von Daniela Kröllwitz

Neulich – am 30. Juni war’s – bereiste die Kanzlerin den Osten. Den deutschen. Tatsächlich. Und machte im schönen Naumburg halt. Und wußte auf dem Marktplatz, wo sie zur Rede gebeten war, gar staunend vom Besuch im weltberühmten Dom der Stadt zu schwärmen. Wie das eben so ist, wenn man des Prachtstücks aus dem Übergang von der Romanik zur Gotik zum ersten Mal im Leben ansichtig wird..
Aber war es denn zum ersten Mal für die Kanzlerin? Man will es kaum glauben. Im keine siebzig Kilometer entfernten Leipzig hat sie fünf Jahre lang, von 1973 bis 1978, gelebt und Physik studiert – und da sollte sie, die Pfarrerstochter aus Templin, die so viel Wert legt auf die christlichen Werte, nicht ein einziges Mal in dieser Kirche gewesen sein? An diesem Wallfahrtsort? Es bleibt im Dunkeln. Nicht der kleinste Zungenschlag eines Wiedererkennens. Oder wenigstens – wenn sie denn wirklich abstinent gewesen sein sollte – des Bedauerns darüber, die damalige Chance nicht genutzt zu haben.
Es ist Prinzip, dieses gewollte Nicht-Erinnern. Prinzip, weil Angela Merkel in ihrem Kanzlerinnenberuf eines unter gar keinen Umständen sein will: eine aus der DDR. Wer ihre Bundestagsreden kennt, weiß das längst. Neulich, in einer Debatte über das Schulsystem, hat Gregor Gysi mit allem Charme der Welt versucht, sie wenigstens ein winziges Stück ins Boot zu holen. »Frau Bundeskanzlerin«, rief er ihr zu, »wir beide haben eine Gemeinschaftsschule besucht. So schlecht sind wir doch gar nicht ausgebildet!« Aber nicht die Spur eines Lächelns vermochte er damit zu ernten, von Zustimmung ganz zu schweigen.
Sie hat sie aus sich herausgepreßt, ihre DDR-Vergangenheit – die hochgebildete Physikerin Dr. Angela Merkel, zur Doktorin geworden nach Abitur in Templin und Diplom in Leipzig am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Adlershof. Hat sie aus sich herausgepreßt, um, wie sie wohl meint, eine richtige Kanzlerin der Einheit sein zu können. Aber ohne Vergangenheit ist sie am Ende doch nur Kanzlerin der Ein-Heit, der westdeutschen – und nicht der Summe aus Zweiem. Synergien aus Ost und West? Komplette Fehlanzeige.
Nur weil wir – sagt sie in Naumburg – 1967 mit dem Stabilitätsgesetz die soziale Marktwirtschaft gesichert haben, geht es dem Osten heute so gut. Wir sagt sie – und war zu diesem Zeitpunkt 13jährige Schülerin im uckermärkischen Templin. Aber sie meint es ehrlich – dieses Wir. Sie hat es verinnerlicht, ist überzeugt davon, daß sie auch damals schon ganz und gar Bestandteil dieses Wirs gewesen ist. Sie hat ihre Vergangenheit durch eine Fiktion ersetzt.
Darüber könnte man lächeln, wenn es nur sie allein beträfe. Aber Angela Merkel ist nun einmal Kanzlerin, und damit wird es Politik. Sie ist so überzeugt davon, daß es dem Osten gut geht, wie es üblicherweise Leute aus dem Westen sind, die den Osten längst abgehängt, längst hinter sich gelassen haben. Es gehe ihm doch besser als Polen, sagt sie in Naumburg. Das ist ihre Antwort auf die Bilanz ihrer Regierungszeit, die Gysi im Frühjahr im Bundestag mit den Worten gezogen hat: »Was hat sich für die Ostdeutschen verbessert? Frau Bundeskanzlerin, auch Sie sind Ostdeutsche. Gibt es einen einzigen Schritt zur Angleichung der Renten, einen einzigen Schritt zur Angleichung der Löhne und Gehälter, einen einzigen Schritt zur Angleichung der Arbeitszeiten? Es gibt ihn nicht.«
Nun ist Gysi nicht der einzige, der das so sieht, und darum schlägt diese Bilanz seit einiger Zeit im Osten auch mit schlechten Umfragewerten für die CDU zu Buche. Nur an dritter Stelle rangiert sie derzeit hinter den Linken und der SPD. Was tut diese Partei in dieser Lage? Sie verfaßt ein Papier mit dem kühnen Titel Moderne Mitte Europas. Ostdeutschland, wie gesagt, ist gemeint. Angela Merkel hat dem Text just vor ihrem Naumburg-Besuch bei einem Zwischenstopp in Halle an der Saale ihren Segen gegeben. Und damit auch ein krudes Ostdeutschland-Geschichtsbild befestigt. »Vor dem Zweiten Weltkrieg«, heißt es da, seien »die ostdeutschen Regionen über Jahrzehnte Motor der industriellen Entwicklung Europas« gewesen, bis – ja, bis »Krieg und Sozialismus sie wirtschaftlich weit zurückgeworfen haben«.
Krieg und Sozialismus in einem Atemzug – wer will es der Kanzlerin da verdenken, daß sie lieber schon immer zum Wir der sozialen Marktwirtschaft gehören will? Schließlich ist sie doch in Hamburg geboren – Templin, Leipzig, Berlin (DDR), all diese Stationen des gleich zweifachen Weit-Zurückgeworfen-Seins, waren einfach nur Pech. Pech, mit dem sich nichts verbinden läßt, was der schönen Erinnerung wert wäre.
Den größten Beifall kriegt Angela Merkel in Naumburg, als sie sagt, daß sie sich freut, eine Deutsche zu sein. Na bitte. Nicht mal das durfte sie lernen an ihrer Akademie.