Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Der realexistierende Demokratismus

von Erhard Crome

Die SPD dümpelt zwar in den Umfragen eher bei zwanzig denn bei dreißig Prozent herum, ihre Friedrich-Ebert-Stiftung jedoch hat es wieder, wie im vorigen Jahr, geschafft, ins Sommerloch eine vielbeachtete Studie zu plazieren. Vergangenes Jahr hatte sie das Prekariat entdeckt, dessen Formierung der SPD-Kanzler Schröder nebst Adlatus Clement so beherzt vorangetrieben hatte, in diesem Jahr geht es um den Zusammenhang von »Lebensumständen, Einstellungen zu Reformen« und »Potentialen der Demokratieentfremdung und Wahlverhalten«. Abgesehen von dem verfehlten »Reform«-Begriff, der die Lügen der Schröder-Zeit fortschreibt, und dem Soziologenkauderwelsch: Sie haben untersucht, inwiefern die Lebenslage der Menschen in diesem unserem Lande und ihr Demokratieverständnis sowie Wahlverhalten zusammenhängen.
Herausgekommen ist nichts, was man nicht in jeder Eckkneipe spätestens nach dem dritten Bier erfährt, aber hier nun immerhin mit empirisch gesättigten Zahlenwerken. Zunächst kommen die Selbstgerechten vor: 86 Prozent der Leute, die sich selbst »als Angehörige der höheren sozialen Schichten« einstufen, fühlen sich vom Leben »eher gerecht behandelt«. Unter den leitenden Angestellten und Beamten sind es 81 Prozent, unter den gemeinen Beamten immer noch achtzig Prozent. 74 Prozent der Arbeitslosen, 71 Prozent der Befragten aus Hartz-IV-Haushalten sowie 59 Prozent der Befragten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 700 Euro dagegen beklagen »ungerechte Behandlung«. So haben wir fast eine Eindrittelgesellschaft: 37 Prozent sehen sich »auf der Gewinnerseite des Lebens«, der Rest nicht. Das ist die eigentliche Verteilung, wenn die Medien den Menschen immer wieder einzureden versuchen, sie müßten sich daran gewöhnen, daß die Gesellschaft sich in »Gewinner und Verlierer« teile. Solange die Demokratie mit dem Prinzip »ein Mensch – eine Stimme« verbunden ist, müßten die Herren (und Herrinnen) des Landes eigentlich froh sein, wenn all die Gebeutelten und Geschundenen nicht zur Wahl gehen. Das steht so natürlich nicht in der Studie. Aber man kann es herauslesen. Statt dessen wird weiterhin die »Demokratieentfremdung« beklagt.
Unter den Befragten insgesamt sagen 37 Prozent, daß die Demokratie in diesem Lande »schlecht« beziehungsweise »weniger gut« funktioniere, unter den Arbeitslosen sagen dies 73 Prozent, 63 Prozent der Befragten aus Hartz-IV-Haushalten und sechzig Prozent der Befragten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 700 Euro. Die Unzufriedenheit mit der Lebenslage und die Kritik an den politischen Verhältnissen, die, wie es in der Studie heißt, »Demokratiedistanz« korrelieren also sehr eindeutig. Und dann haben die Ebert-Leute noch etwas sehr Bemerkenswertes herausgefunden: 61 Prozent der Ostdeutschen – über alle Parteipräferenzen hinweg – teilen die kritische Position. In der Auswertung heißt es dann: »Drei von zehn Westdeutschen, aber sechs von zehn Ostdeutschen bewerten das Funktionieren der Demokratie negativ.«
Wie wird das nun in der Medienwelt verhackstückt? Anne Will wollte eines Sonntagabends im ARD-Fernsehen mal wieder Meinungsführerschaft simulieren und hob die Studie auf ihren Schild. Die vorgeladene Dagmar Enkelmann von der Partei Die Linke mühte sich redlich, aber sie wurde von General a. D. Schönbohm angeschnauzt, von der unvermeidlichen Monika Maron, die als konvertiertes Kind des einstigen roten Adels der DDR für jede antikommunistische Unterstellung gut ist, geschmäht und von zwei Landesvorsitzenden der SPD beziehungsweise der FDP belehrt. Hinzu kamen eine schulmeisterliche CDU-Aktivistin aus dem Anhaltischen und ein keifender Arnulf Baring (zur Erinnerung: der Verzwergte), der als Wissenschaftler angekündigt war.
Was kann aus solchem Arrangement herauskommen? Wider Erwarten sehr Aufschlußreiches. Der Zusammenhang »Keine Arbeit – keine Perspektive – kein Vertrauen in die Demokratie« wurde allgemein geteilt. Der FDP-Umkehrspruch: »Nur eine Demokratie ist in der Lage, Wohlstand für alle zu sichern«, erweist sich demgegenüber als sachlicher und logischer Unsinn. Der Hinweis, man müsse »mehr politische Bildung« machen, erscheint eher zahnlos. Die Ossis wurden wieder beschimpft, weil sie angeblich »die Demokratie« nicht verstanden hätten, wegen der »jahrzehntelangen Diktatur«, obwohl ihnen zwischendurch durchaus konzediert wurde, sie hätten 1989 die Demokratie selbst erkämpft. Die Frage, ob sie damals eine andere Demokratie, eine, die die Dinge bei der Wurzel packt und entscheidet, anstrebten und nicht eine, die die Unterschiede zwischen den »Gewinnern« und den »Verlierern« verkleistert, wurde nicht gestellt.
So war die Pointe wieder eine Beschimpfung der Linken: Sie profitiere von der Lage, »schaffe die Ängste« und werde »das Chaos vergrößern«. Weil sie davon spricht, was ist. Dabei wird völlig ausgeblendet, daß nicht sie das Chaos geschaffen hat. »Die Wähler haben das Vertrauen in die anderen Parteien verloren«, hieß es auch. Die Schlußfolgerungen daraus wollte man allerdings nicht akzeptieren. Nur: Die Gedanken sind frei, und die Wähler in ihrer Entscheidung auch – solange man sie läßt.