Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Juli 2008, Heft 14

»Dann fangen wir von vorne an«

von Mario Keßler

Theodor Bergmann, Jahrgang 1916, war seit 1930 in der Jugendorganisation der KPD-Opposition (KPD-O) aktiv und mußte als Jude und Sozialist im März 1933 Deutschland verlassen. In Palästina arbeitete Bergmann auf einem Kibbutz, in der CˇSR studierte er Agrarwissenschaft, in Schweden war er Landarbeiter. 1946 kehrte er nach Westdeutschland zurück – in der SBZ lag bereits ein Haftbefehl für den Gegner Stalins bereit.
Es folgten Jahre als ungelernter Metallarbeiter, doch auch die Redaktion der Zeitschrift Arbeiterpolitik in Stuttgart – ohne Bezahlung. Dank seiner Frau Gretel konnte Theo Bergmann auch diese Zeit meistern, schrieb nebenher 1955 seine Dissertation. Verschiedenen Tätigkeiten folgte 1965 ein Lehrauftrag in Stuttgart-Hohenheim, dort 1968 die Habilitation. Von 1973 bis 1981 war Theo Bergmann Professor für International vergleichende Agrarpolitik an der nunmehrigen Universität Hohenheim. Daneben arbeitet er zu Fragen der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, wovon eine Reihe aktueller Publikationen von und über ihn zeugen.
Das von Bergmann edierte Werk Klassenkampf und Solidarität behandelt die Geschichte der Stuttgarter Metallarbeiter vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ein Ausblick spricht das Verhältnis der Metallgewerkschaft zu Arbeiterparteien und Regierungen an.
Dieser Ausblick verdient einige Nachfragen. Der sozialdemokratische Reformismus, zu dessen Nachläufern sich die mit der SPD-Spitze verfilzte Gewerkschaftsbürokratie gemacht habe, sei nach Jahrzehnten an sein Ende gekommen: »Die Regierungsteilnahme der SPD in Berlin und von New Labour in London dient nicht einmal verbal mehr der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der werktätigen großen Mehrheit, sondern der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen beziehungsweise britischen Bourgeoisie und dem weitgehendsten Abbau der errungenen Reformen. Wenn die freien Gewerkschaften weiterhin die Interessen ihrer Mitglieder und deren Familien vertreten wollen, dürfen sie sich nicht länger an eine eindeutig prokapitalistische SPD-Führung und deren Koalitionspolitik binden.«
Die Verfasser kritisieren die Folgen der »Wiedervereinigung« (Anführungszeichen im Text) für die ostdeutschen Werktätigen, scheuen aber vor dem Schluß zurück, daß es die Gewerkschaftsbürokratie der »alten« Bundesrepublik war, die vor allem der DDR-Intelligenz 1990 jede Unterstützung und jede Garantie gewerkschaftlicher Rechte verweigerte, die westdeutschen Beschäftigten zustanden. Auch beantworten die Autoren nicht die Frage, warum zum Beispiel in Frankreich und Italien die Gewerkschaften die Interessen der Lohnabhängigen in ganz anderer Weise wahrnahmen, zum Teil noch wahrnehmen, als dies in der Bundesrepublik der Fall ist.
Liegt eine mögliche Antwort in der Existenz autonomer Gewerkschaftsorganisationen? Sind Gewerkschaften, die die Interessen ihrer Mitglieder offensiv vertreten wollen, noch inner- oder doch künftig eher außerhalb des DGB möglich? Geht die Zeit der Einheitsgewerkschaft, die es in Italien und Frankreich nie gab, in der Bundesrepublik perspektivisch zu Ende? Sollte dem so sein, dann geschieht dies nicht auf Bestellung, sondern ist Resultat eines längeren Prozesses. Die Linke kann sich nicht ihre eigene Gewerkschaft »schaffen«. Diese Frage heute zu stellen, heißt nicht, sie bereits zu beantworten.
Seit langem arbeitet Theo Bergmann in der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft mit, die im November 2004 in Guangzhou (Kanton) ihre turnusmäßige Konferenz abhielt. Die sechzehn Aufsätze des daraus hervorgegangenen Buches China entdeckt Rosa Luxemburg können hier nicht referiert werden. Hingewiesen sei aber auf den Beitrag von Narihiko Ito. Er berichtet über die Umstände seiner Entdeckung eines Luxemburg-Manuskriptes, das zu einer Sammlung von sechs Vorlesungsschriften gehört, die Rosa Luxemburg für ihre Lehrveranstaltungen an der SPD-Parteischule verfaßte.
Dieses Manuskript, das Ito in Moskau fand, behandelt unter dem Titel Sklaverei Luxemburgs Überlegungen zur Sklaverei als der ältesten Form der Klassenherrschaft und der ökonomischen Ausbeutung. Im Unterschied zu Engels, aber in indirekter Anknüpfung an Marx (dessen entsprechende Manuskripte sie noch nicht kannte) betonte Rosa Luxemburg, daß die Sklaverei nicht nach der Entstehung des Privateigentums eingeführt wurde, »sondern umgekehrt schon davor, als durch den Krieg zwischen den Marken (nichtrömische Grenzgebiete – d. Red.) ein Ausbeutungs- und Knechtungsverhältnis entstanden war. Und daraus entstand und entwickelte sich die Klassenherrschaft innerhalb der Mark-Genossenschaft, die den Kommunismus der Mark von innen her zerstörte.«
Das Buch Dann fangen wir von vorne an enthält die Beiträge einer Veranstaltung aus Anlaß von Theo Bergmanns 90. Geburtstag am 7. März 2006 sowie die DVD eines gleichnamigen Films über den Jubilar. Auch hier kann nur einer der achtzehn Aufsätze vorgestellt werden:
Annette Vogt nimmt mit Sergej Tschachotin (1883-1973) ein vergessenes Gelehrtenschicksal in den Blick. Tschachotin war Mikrobiologe, Wissenschaftssoziologe sowie Forscher zu Formen der Massenpropaganda und Massenpsychologie. 1918 emigrierte er als Gegner der Bolschewiki aus Rußland, näherte sich der Sowjetunion jedoch später an. Nach einer Professur in Zagreb arbeitete er am Heidelberger Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung und war gleichzeitig wichtigster Denker der sozialdemokratischen Eisernen Front, deren Symbol, die drei Pfeile, er zusammen mit seinem Freund Carlo Mierendorff entwarf. Tschachotins Buch Dreipfeil gegen Hakenkreuz, das 1933 erschien, war eine wichtige Analyse der Hitler-Propaganda. Sein Verfasser wurde ins Exil getrieben und gelangte über Dänemark, Frankreich und Italien im Jahre 1958 zurück nach Moskau. Dort wurde er als Biophysiker geehrt, seine soziologischen Studien konnte er jedoch nicht weiterführen, und sein zweites wichtiges Werk The Rape of the Masses. The Psychology of Totalitarian Propaganda (London 1939) blieb in der Sowjetunion Anathema. Tschachotins Leben steht auf ganz andere Weise als die Vita Theodor Bergmanns und doch mit Gemeinsamkeiten exemplarisch für unabhängiges linkes Denken im 20. Jahrhundert.

Helmut Arnold, Gert Schäfer (Hrsg.): »Dann fangen wir von vorne an«. Fragen des kritischen Kommunismus – Theodor Bergmann zum 90. Geburtstag, VSA Hamburg 2007, 206 Seiten + DVD, produziert von Thorsten Fuchshuber, Julia Preuschel, Gabriele Reitermann und Danièle Weber, 22,80 Euro; Theodor Bergmann ( Hrsg.): »Klassenkampf und Solidarität«. Geschichte der Stuttgarter Metaller und Metallerinnen, VSA Hamburg 2007, 386 Seiten, 26,80 Euro. Zum Autorenkollektiv gehören Tom Adler, Ursel Beck, Martin Gansen, Wolfgang Haible und Christa Hourani; Narihiko Ito, Theodor Bergmann, Stefan Hochstadt, Ottokar Luban (Hrsg.), China entdeckt Rosa Luxemburg. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Guangzhou am 21./22. November 2004, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, 158 Seiten, 14,90 Euro