Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 23. Juni 2008, Heft 13

Monolith gegen Massenkultur

von F.-B. Habel

Cottbus ist – zumindest manchmal – eine internationale Metropole. Beim dortigen Festival des Osteuropäischen Films treffen sich alljährlich im November wichtige Filmemacher aus Europa, unter ihnen nicht wenige der alten Garde wie István Szábo aus Ungarn, Donatas Banionis aus Litauen und Itzak Finzi aus Bulgarien. Meine Begegnung mit dem großen Kirgisen Dschingis Aitmatow, der zu Beginn unseres Jahrhunderts immerhin drei Mal das Festival besuchte, beeindruckte mich besonders.
Manche Details aus seiner Biographie kannte ich: Daß er achtjährig den Vater verlor, der als kirgisischer Parteisekretär nach Moskau zum Studium gegangen war und hier Stalins Säuberungen zum Opfer fiel. Daß Dschingis Aitmatow mit vierzehn Jahren begann, die Familie zu ernähren, daß er über Umwege zum Schreiben kam und seit Ende der fünfziger Jahre zu den großen Autoren seiner Heimat zählte. Aitmatow war kein Filmregisseur, schrieb auch keine Originalstoffe für Filme, aber als wohl größter Schriftsteller Kirgisiens – wie man Kirgistan damals nannte –, war er zu Sowjetzeiten auch Vorsitzender des dortigen Filmverbands. Listenreich betonte er in seinen Reden und Schriften die Bedeutung der russischen Kultur für die Länder der Sowjetunion, um dann immer wieder die Schönheit der nationalen Kulturen und ihre Eigenständigkeit hervorzuheben. Ab und an holte er sich einen ordentlichen Rüffel ab; aber das machte ihm nichts. Er trat für einen Sozialismus ein, der auch seine Fehler diskutiert, zumindest intern.
Als Filmmensch habe ich vor allem die Adaptionen seiner Erzählungen und Romane gesehen. Beeindruckt hatte mich beispielsweise Michalkow-Kontschalowskis Der erste Lehrer wegen seiner optischen Strenge, zwiespältig sah ich Abschied von Gulsary, weil er in der übermäßigen Poetisierung Aitmatows dramatischer Erzählung nicht entsprach.
Als mir Dschingis Aitmatow, ein Monolith voller menschlicher Wärme, gegenübersaß, fragte ich ihn zuerst nach der für ihn gelungensten Umsetzung eines seiner Texte in das Medium Film. War es ein Film seines Landsmanns Bolotbek Schamschijew, etwa Roter Mohn am Issyk-Kul oder Frühe Kraniche? Ganz bestimmt doch Der weiße Dampfer? Die Antwort überraschte mich, denn er nannte zwei unbekannte Filme. »Während der Zeit der Perestroika entstand bei Mosfilm Der Junge und das Meer«, sagte Aitmatow nach kurzem Nachdenken. »Bei ihm erschienen mir brisante Fragen des Lebens am wirksamsten umgesetzt. Aber nachdem ich in Cottbus erstmals vollständig den Film Die Milchstraße sehen konnte, der in Kirgistan nach meiner Erzählung Mutters Feld entstand, muß ich sagen, daß er mich ebenso fasziniert hat. Hier hat mein Stoff auf der Leinwand ein zweites Leben erhalten.« Aitmatow hatte eine Mutter, die weibliche Hauptfigur, eine Apokalypse durchleben lassen, in der sich – so seine Interpretation – die Apokalypse der Menschheit spiegelte.
Wenn man Aitmatow genau ansah, bemerkte man, daß er müde geworden war. Seit Jahren lebte er als Diplomat in Brüssel, lebte ein westeuropäisches Leben, das ihm eigentlich fremd war, mußte sich mit kulturellen Phänomenen auseinandersetzen, die er sich nicht gewünscht hatte. »Die Massenkultur ist ein Diktat, das jedes gute Kunstwerk tötet«, sagte er mit Blick auf die kommerzielle Kinokultur, die nun auch in seiner Heimat eingezogen war.
Aitmatow hatte mit dem Sozialismus Hoffnungen verknüpft. Wie verkraftete er es, daß eine so konträre Entwicklung einsetzte? In seiner Antwort war er ganz Diplomat, aber seinen Pessimismus konnte er nicht ganz verhehlen: »Diese Entwicklung war, davon bin ich überzeugt, historisch unvermeidbar. In unseren Ländern wurde daran gegangen, Änderungen mit dem Ziel einer neuen, demokratischen Gesellschaft einzuleiten, die die Stellung unserer Staaten im Weltgefüge erfordern. Dabei sehe ich allerdings auch viele dunkle Seiten, vor allem soziale und ökonomische, schwere Zeiten für Kultur und Geist. Die Hoffnung jedoch, daß sich alles entwickelt, wie wir es wünschen, ist naiv, und ich kann daran nicht glauben.«
Inzwischen war Aitmatow nach Kirgistan zurückgekehrt. Das Jahr 2008, in dem sein 80. Geburtstag gefeiert werden sollte, wurde in seiner Heimat als Aitmatow-Jahr ausgerufen. Noch einmal reiste der Meister nach Europa, um für ein Filmporträt vor der Kamera zu stehen. In Deutschland starb er, dort, wo er außerhalb der GUS-Länder seine treuesten Leser hat. Ich nutze den traurigen Anlaß, um in seinen Büchern zu lesen – abseits der Massenkultur – und mich an den großen Monolithen zu erinnern.