Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 26. Mai 2008, Heft 11

Wir Wellenbrecher

von Hajo Jasper

Noch ein Text zum Film Die Welle? Ja, und angeregt hat mich dazu der Beitrag von Wolfgang Sabath im Heft 10 des Blättchens. Denn was man über Manipulation von Menschen und Manipulierer auch an »Objektivem« zusammentragen mag – ihr Gegenstand sind und bleiben in der Tat wir selbst. Und da, so zeigt jedenfalls meine Erfahrung, ist niemand immun gegen die Instrumentalisierung durch andere, am wenigsten vermutlich jene, die tapfer das Gegenteil behaupten. Zumindest ein Fleckchen Verwundbarkeit hat jenes Lindenblatt allenthalben hinterlassen, das schon Siegfried zum Verhängnis wurde; wiewohl Hagen von Tronje den germanischen Sagenhelden nicht manipulierte, sondern schnöde »harpunierte«.
Ich will dem hier keine weitere Exegese hinzufügen. Vielmehr zitiere ich aus einem Buch, das jeder gelesen haben sollte, der sich fragt, wie »Es« seinerzeit hatte passieren können – daß nämlich die doch scheinbar so primitiv-dummen Nazis nahezu das ganze Volk der Deutschen mit ihrem Gift zu infizieren und hinreichend oft zu begeistern vermochten.
Von Sebastian Haffners Geschichte eines Deutschen ist hier die Rede. Haffner schildert, wie er und mit ihm viele andere Jurastudenten vor ihrem Assessorexamen zu einer vorausgehenden, militärisch orientierten »weltanschaulichen Schulung« verpflichtet wurden. In die Garnisonsstadt Jüterbog, in der sich dieser mehrwöchige Lehrgang im Herbst 1933 abspielte, war nicht nur er mit der ironisch-überlegenen Meinung eines jungen Intellektuellen gereist, diese sinnenleere und vollkommen wirkungslose Pflichtübung über sich ergehen zu lassen.
Was Haffner und Co. dann aber an sich selbst erlebten, machte sie, spätestens nachdem der Spuk vorbei war, ziemlich fassungslos und schaudern. Sie, die sich gegen das penetrante und hohlköpfige Nazigegeifer immun wähnten, bemerkten, wie sie – keineswegs albernen politischen Vorträgen ausgesetzt – eben jenen Mechanismen erlagen, auf die Manipulation von Gruppen und Massen so erfolgreich setzt: dem herbeiorganisierten Gefühl von Gemeinschaftlichkeit und Kameraderie und dem Ehrgeiz, das können zu wollen, was verlangt wird. »Wir sind«, beschreibt es Haffner rückblickend, »die schlechtesten Saboteure der Welt. Was wir machen, müssen wir erstklassig machen, keine Stimme des Gewissens oder der Selbstachtung kommt dagegen auf. Darin. Die Sache, die wir gerade machen, gut zu machen – ganz gleich was es ist; eine anständige und sinnreiche Arbeit; ein Abenteuer; oder ein Verbrechen – finden wir eine tiefe lasterhaft-beglückende Betäubung, die uns jedes Gedankens an einen Sinn und die Bedeutung dieser Sache, die wir gerade tun, überhebt. […] Hier war unser aller schwache Stelle – ob wir nun im übrigen Nazis oder Nichtnazis waren. Und hier wurden wir mit bemerkenswert psychologisch-strategischem Geschick angepackt.«
Haffners Fazit schließlich: »Wenn wir – Referendare immerhin, Akademiker mit intellektueller Schulung, angehende Richter und gewiß nicht durch die Bank Schwächlinge ohne Überzeugungen und ohne Charakter – in Jüterbog binnen wenigen Wochen zu einer minderwertigen, gedankenlos-leichtfertigen Masse geworden waren, […] dann waren wir dies durch Kameradschaft geworden. Denn Kameradschaft bedeutet unvermeidlich Fixierung des geistigen Niveaus auf der niedrigsten, dem letzten noch gerade mal zugänglichen Stufe. Sie erträgt keine Diskussion; Diskussion nimmt in der chemischen Lösung Kameradschaft sofort die Farbe der Quengelei und Stänkerei an und ist eine Todsünde. In der Kameradschaft gedeihen keine Gedanken, sondern nur Massenvorstellungen primitivster Art – und sie wieder unentrinnbar; wer sich ihnen entziehen will, würde sich außerhalb der Kameradschaft stellen. Wie ich die Vorstellungen wiedererkannte, die unsere Lagerkameradschaft nach wenigen Wochen absolut und unentrinnbar beherrschten! Es waren nicht eigentlich die amtlichen Nazikonzeptionen und es waren doch die Nazikonzeptionen. Es waren die Vorstellungen, die unter uns Kindern in den Weltkriegsjahren geherrscht hatten, die Vorstellungen des Rennbundes Altpreußen und der Sportclubs aus der Stresemannzeit. Ein paar Spezifika der Nazi-Weltanschauung hatten noch nicht recht Wurzeln geschlagen. ›Wir‹ waren z. B. nicht eigentlich virulent antisemitisch. Aber ›wir‹ waren auch nicht bereit, uns hierauf zu versteifen. Kleinigkeiten; wer würde sich dadurch stören lassen. ›Wir‹ waren ein Kollektivwesen, und mit der ganzen intellektuellen Feigheit und Verlogenheit des Kollektivwesens ignorierten oder bagatellisierten wir instinktiv alles, was unsere kollektive Selbstzufriedenheit hätte stören können … Ein Deutsches Reich im kleinen.«
Gewiß: Die Rede bei Haffner geht um seine Erfahrung mit der Droge Faschismus. Man sollte sich aber hüten, das Wirkungsfeld von Manipulationen, zumal jener durch Vermassung und/oder Kollektivierung, also durch Verleitung, Nötigung oder Zwang zur Selbstaufgabe des einzelnen, darauf zu reduzieren. Auch wer nach wie vor mit dem Gedanken spielt, man müsse den neuen Menschen schaffen, der sollte – als Minimum – wenigstens von jenem alten Adam und jener alten Eva ausgehen, die wir so ziemlich ausnahmslos auch heute noch sind – und, so fürchte zumindest ich ziemlich desillusioniert, es wohl auch bleiben werden. Und damit anfällig für jede neue Welle, die auf uns zurollt.