Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 18. Februar 2008, Heft 4

Rosa Luxemburg und Frigga Haug

von Thomas Kuczynski

Die Lektüre dieses neuen Buchs mit neuen Sichtweisen auf Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik ist dringend zu empfehlen. Dies sei vorausgeschickt, denn das Buch selbst beginnt leider furchtbar dröge, geradezu altfeministisch. Warum eine so kluge und politisch denkende Frau wie Frigga Haug nach den Erfahrungen, die die Welt auch mit Politikerinnen hat machen müssen, immer noch der Hoffnung anhängt, Frauen könnten unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen »eine andere Politik machen: näher an den Bedürfnissen der Menschen, weniger technokratisch, herzlos, verschwenderisch, kriegerisch«, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich nenne hier nur Namen wie Margaret Thatcher und Madeleine Albright, Golda Meir und Ana Pauker, Condoleezza Rice und Angela Merkel – und bekenne zugleich, sehr vergnügt wahrgenommen zu haben, mit welch scheinbarer Lässigkeit, geradezu Nonchalance, Frau Merkel die Herren Schröder, März, Koch, Stoiber und wie sie alle hießen, abserviert hat. Zum Glück erliegt auch Frigga Haug der Wirkungsmacht von Rosa Luxemburg und ihrem Werk, in dem die Frauenfrage eine ähnliche Rolle wie die Judenfrage spielt, nämlich eine sehr untergeordnete, so daß der Einstieg bald vergessen ist und eine geradezu aufregende Lektüre beginnt.

Was Frigga Haug an Aussagen von Rosa Luxemburg über Revolutionäre Realpolitik und Fehleranalyse und Irrtumskritik als Kunst der Politik zusammengestellt hat und vor allem auch, wie sie das getan, verdient wegen der zumeist ziemlich hilf- und wirkungslosen, auf bloße Verteidigung von Besitzständen ausgerichteten Abwehr von seiten der Gewerkschaften, Parlamentsmitgliedern der »Linken« und so weiter höchste Aufmerksamkeit. Angesichts von Sozial-, Gesundheits- und sonstigen »Reformen« ist der von Rosa Luxemburg geführte Kampf gegen den Reformismus in einem neuen, sehr aktuellen Lichte zu sehen. Die einzigartige Kombination von durch keinerlei wohltönende Phrase zu bestechendem Realismus und nie (oder nur in stillen Stunden) das Vertrauen in die Massen verlierendem Optimismus findet sich in dieser Ausprägung nirgendwo sonst in der revolutionären Literatur. Der so häufig gegen sie erhobene Vorwurf einer »illusionären Überschätzung der Massen« übersieht, daß sich in der Geschichte ohne die Massen nichts bewegt, weder im Guten noch im Bösen: Basiert die Stärke einer konterrevolutionären Bewegung vor allem auf Massenverführung, so die Stärke einer revolutionären Bewegung auf nichts anderem als der Bewußtheit der Massen. Letzteres ist der Inhalt ihrer so oft belächelten Feststellung, daß die Masse »keine ›Führer‹ im bürgerlichen Sinne braucht, daß sie sich selbst Führer ist«. Angesichts einer im Sumpf von Parlament, Bürokratie und Reform umgekommenen »Linken« lenken die Schriften dieses »Adlers der Revolution« den Blick auf das Wesentliche.

Sicherlich kann Frigga Haug vorgeworfen werden, daß sie an keiner Stelle den Versuch unternimmt, die Methode Rosa Luxemburgs auf die Gegenwart anzuwenden. Ich halte das für einen Vorzug des Buches, denn das Werk von Rosa Luxemburg ist kein Kochbuch, nach dessen Lektüre die Rezepte für die Revolution von jedermann (und jeder Frau) nur noch zu befolgen sind und ein frisch gebackener Sozialismus fabriziert ist. Ganz im Gegenteil: Die Lektüre zeigt, wie konkret Rosa Luxemburg ihre Gegenwart analysiert hat, um ihre eigene Strategie und Taktik zu entwickeln, zeigt also, daß wir selber uns dieser Mühe unterziehen müssen, die Gegenwart zu untersuchen und unsere eigene Strategie und Taktik zu entwickeln haben. Wer Frigga Haug vorwirft, daß sie diese Analyse nicht vorgenommen und keine eigene Strategie und Taktik entwickelt hat, weise eigene Resultate vor.

Statt anschließend das selbstverständlich auch bei Rosa Luxemburg vorhandene Spannungsfeld von Theorie und Praxis revolutionärer Realpolitik zu untersuchen, widmet sich Frigga Haug einem so bei ihr gar nicht vorhandenen, dem Spannungsfeld von Theorie und Empirie: Sicher hat auch Rosa Luxemburg verbal gegen den flachen Empirismus gewettert und dogmatisch auf »ewigen Grundwahrheiten« beharrt, aber sobald es konkret wurde, da hat sie empirisch analysiert und gar manche »Grundwahrheit« fallengelassen, zuweilen auch fälschlicherweise. Wissenschaftstheoretisch betrachtet, hat sie das Falsche gesagt und praktisch das Richtige getan. Das ist zweifellos ein Widerspruch, hier zwischen Theorie und Praxis revolutionärer Politik, ein Widerspruch aber, der gar nicht so selten ist und im konkreten Falle allein jene stören kann, die nunmehr das Werk von Rosa Luxemburg kanonisieren wollen. Um im Bild vom Adler (es stammt übrigens von Lenin) zu bleiben: Sicherlich können Adler zuweilen so niedrig fliegen wie Hühner, aber Hühner eben nie so hoch wie Adler – und das ist die entscheidende Differenz. Daher trifft Frigga Haugs Kritik einen Adler, der sich gerade mal in den Niederungen eines Huhns verirrt hat. Letzteres kann durchaus konstatiert werden (auch wenn es Rosa Luxemburg gegenüber sehr despektierlich klingt), muß es vielleicht sogar, aber ist dazu ein ganzes Kapitel vonnöten? Und: Was hat es mit der Kunst der Politik zu tun?

Auch die von Peter Weiß in seinen Vorarbeiten zur Ästhetik des Widerstands en passant notierte »Linie Luxemburg-Gramsci« wird, um Brecht ergänzt, zum wiederholten Male überstrapaziert. Natürlich haben die beiden, genauso wie manch andere, Bezug auf Werk und Wirken Rosa Luxemburgs genommen, aber die eben bloß gedachte (um nicht zu sagen: ausgedachte) Linie bleibt auch nach gehabter Lektüre ein ziemlich theoretisches Konstrukt, blutleer und abstrakt, fern aller Kunst der Politik, zu der ja zumindest eines gehören sollte: überzeugend zu wirken.

Analoges gilt für die etwas überanstrengt wirkende Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, die nach der »Wende« von manchen an sich selbst irre gewordenen Linken zu einer neuen Ikone hochstilisiert und mit Rosa Luxemburg verglichen worden ist. Aber damit wurde dieser Frau bitter unrecht getan (von Rosa Luxemburg ganz zu schweigen), dieser Aristokratin und Demokratin des Geistes zugleich, für die das Handeln jenseits des Nützlichen begann, und der wohl nichts ferner gelegen hat als der Gedanke, daß die Masse »sich selbst Führer ist«. Sie hat in völlig anderen Sphären als Rosa Luxemburg gedacht und gehandelt, auch wenn sie ihr Anerkennung und Bewunderung gezollt hat; allerdings eine Bewunderung vom anderen Ufer, zu der große Geister immer wieder in der Lage gewesen sind, über alle fundamentalen Differenzen hinweg. Aber das kann auch ohne eine Kurzfassung des Arendtschen Kategoriensystems gezeigt werden, erst recht (im sechsten Kapitel!) ohne einen nochmaligen Exkurs zu Rosa Luxemburg.

Was dagegen fehlt (und gar nicht so einfach zu schreiben ist), das ist ein Kapitel über die Nachwirkungen von Rosa Luxemburgs »Kunst der Politik«, ihres Denkens und Handelns als Politikerin. Ein solches Kapitel hätte allerdings den wohl selbst gesetzten Rahmen dieses Buches gesprengt, nämlich die Beschränkung auf Philosophen sowie philosophierende Denker und Schriftsteller aufgebrochen und den Aufbruch in die Geschichte der Theorie und Praxis sozialistisch-kommunistischer Politik erfordert, also wirkliche Kärrnerarbeit auf politik- und theoriehistorischem Gebiet.

Allen kritischen Einwänden zum Trotz: Frigga Haugs Buch gehört in die Hand all jener, die heutzutage revolutionäre Realpolitik betreiben wollen.

Frigga Haug: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Argument Verlag Hamburg 2007, 234 Seiten, 16,50 Euro