Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Januar 2008, Heft 1

Wie sie uns die Bombe stahlen

von Uri Avnery, Tel Aviv

Es war, als ob Israel von einer Atombombe getroffen worden wäre. Die Erde bebte. Unsere politischen und militärischen Führungskräfte standen unter Schock. Die Macher der Schlagzeilen heulten auf vor Wut. Was war geschehen? Etwas Katastrophales: Der amerikanische Nachrichtendienst, bestehend aus sechzehn verschiedenen Organisationen, war einstimmig zu dem Urteil gelangt, daß die Iraner ihre Bemühungen um die Produktion einer Atombombe schon 2003 beendet und daß sie diese Bemühungen seitdem auch nicht wieder aufgenommen haben.

Sollten wir darüber nicht überglücklich sein? Sollte Israels Bevölkerung nicht auf den Straßen tanzen, schließlich sind wir gerade erneut gerettet worden! Ahmadinejad, der neue Hitler des Nahen Ostens, der jeden zweiten Tag verkündet, Israel müsse von der Landkarte verschwin-den, war im Begriff, seine eigene Prophezeiung zu erfüllen. Und siehe da – keine Bombe. Der böse Ahmadinejad hat gar nicht die Mittel, uns zu schaden. Ist das nicht ein Grund zum Feiern? Warum fühlt es sich dann an wie eine nationale Katastrophe?

Mir hat sich ein britisches Poster eingeprägt, das an den Mauern Palästinas hing, als in der dunklen Zeit ab 1940, als Frankreich durch die Nazis besetzt worden war, die Briten ihren Kampf mehr oder weniger allein auszufechten hatten. Unter dem ernsten Gesicht Winston Churchills stand der Slogan: »Nun denn: alleine!« Bei uns ist das fast zu einem nationalen Ritual geworden, wie wir in den guten alten Zeiten von Golda Meir sangen: Die ganze Welt ist gegen uns / das ist eine alte Melodie / und jeder, der gegen uns ist / laß ihn zur Hölle gehen.

Die iranische Bombe war zum Kernstück eines internationalen Konsenses geworden, auf dessen Einhaltung Amerika, die Königin der Welt, streng achtete. Jetzt kommt Präsident George W. Bush ins Stottern. Die erste Reaktion der israelischen Führung war energisch und bestimmt: totale Leugnung.

Der amerikanische Bericht sei einfach falsch, verkündeten alle Medien. Unsere eigenen Nachrichtendienste hätten viel genauere Daten, die bewiesen, daß an der Bombe weiter gebaut werde. Wirklich? Alle Informationen des Mossad gehen automatisch zur CIA. Sie sind ein Teil genau jener Datenfülle, auf die sich der amerikanische Bericht stützt.

Also dann lügen die amerikanischen Nachrichtendienste bewußt. Da kann man sich nicht der Schlußfolgerung erwehren, daß trübe politische Motive hinter ihren eindeutigen Befunden liegen müssen. Vielleicht wollen sie die Fehlberichte, aufgrund derer Präsident Bush seine Invasion in den Irak zu rechtfertigen versuchte, wettmachen. Damals haben sie übertrieben – jetzt untertreiben sie halt.

Vielleicht wollen sie sich auch an Bush rächen und glauben, die Zeit sei reif dazu, zumal er im letzten Abschnitt seiner Amtszeit nur mehr eine »lahme Ente« ist. Oder sie schließen sich der allgemeinen amerikanischen Meinung an, der es nicht nach einem weiteren Krieg zumute ist. Und natürlich müssen die dafür Verantwortlichen Antisemiten sein.

Selbst wenn die amerikanischen Geheimdienste in ihrer Naivität wirklich glauben würden, der Iran habe die Arbeit an der Bombe eingestellt, offenbare dies ihre Naivität. Schließlich wissen wir Israelis, wie leicht es ist, eine Atombombe zu verstecken und die ganze Welt zu täuschen …

Der Krieg gegen den Iran wird vorläufig zu einem Nicht-Ereignis. Auch die Möglichkeit eines unabhängigen israelischen Militärschlages gegen den Iran ist dahin. Israel kann keinen Krieg ohne den uneingeschränkten Rückhalt der USA führen. Was unser Militär und die Nachrichtendienste betrifft, so ist der Bericht aus einem weiteren Grund eine absolute Katastrophe. Die iranische Bombe spielt nämlich eine unentbehrliche Rolle beim jährlichen Kampf der Armee um ihren beträchtlichen Anteil am Staatsbudget. Auch für rechte Demagogen ist die Auswirkung entmutigend. Binyamin Netanjahu hatte seine ganze Strategie auf die iranische Bedrohung gebaut und hatte gehofft, auf der Bombe direkt zum Ministerpräsidentenamt reiten zu können.

Die neue Situation bedeutet auch für Ehud Olmert ein schweres Dilemma. Auf dem Rückflug von Annapolis gab er erstaunliche Äußerungen von sich. Wenn die Zwei-Staaten-Lösung nicht realisiert werde, dann »ist der Staat Israel erledigt«, erklärte er. Keiner im Friedenslager hat je gewagt, so weit zu gehen. Glaubt er, was er sagt, oder geht es ihm nur darum, Zeit zu gewinnen?

Alle Anzeichen scheinen darauf hinzudeuten, daß er nicht in der Lage ist, auch nur irgendeinen Schritt zu tun. Wenn er versuchte, auch nur die erste Phase der Road Map durchzuführen, und einige Siedlungsposten auflöste, würde sich ihm nicht nur die entschlossene Opposition der Siedler und ihrer Unterstützer und die stille – aber sehr wirksame – Opposition des Militärs entgegenstellen. Bevor der erste Außenposten aufgelöst würde, bräche die Koalition auseinander. Ehud Olmert aber hat keine andere Koalition zur Hand. Selbst in seiner eigenen Fraktion sitzen einige rechtsextreme Mitglieder, die jede Friedensbemühung sabotieren würden. In solch einer Situation ist das normale Verhalten eines »wirklichen« Politikers wie Olmert, nichts zu tun, Erklärungen nach links und nach rechts zu verteilen – und zwar im doppelten Sinne – und zu versuchen, Zeit zu gewinnen.

Vor einigen Wochen nun verkündete die Regierung Pläne, dreihundert neue Wohnungen im häßlichen Har Homa, nahe Jerusalem, zu bauen. Für jemanden wie mich, der Tage und Nächte gegen den Bau dieser speziellen Siedlung demonstriert hat, ist das besonders bitter. Es weist nicht auf eine bessere Wendung hin. Andererseits kam mir eine interessante These von jemandem aus dem inneren Zirkel Olmerts zu Ohren. Danach mag sich Olmert, der weiß, daß er die Macht verliert, sagen: Wenn ich fallen muß, warum dann nicht als jemand in die Geschichte eingehen, der sich selbst auf dem Altar eines erhabenen Prinzips geopfert hat, statt nur als politischer Nichtsnutz zu verschwinden.

Wenn er keinen anderen Ausweg hat, mag er diese Lösung wählen – um so mehr als seine eigene engere Familie ihn in diese Richtung drängt.

Ich würde diese Möglichkeit als »unwahrscheinlich« einschätzen – aber es sind schon seltsamere Dinge geschehen. So oder so, eines ist sicher: Dieser Schuft, Ahmadinejad, hat uns wieder einmal beschissen. Er hat unseren kostbarsten Besitz geraubt: die iranische Atombedrohung.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, redaktionell gekürzt