Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Januar 2008, Heft 2

Good governance

von Hajo Jasper

Jean-Jacques Rousseau schrieb 1762 im Gesellschaftsvertrag: Wenn man unbedingt wissen will, welche Regierung die beste ist, so wirft man eine ebenso unlösbare wie unbestimmte Frage auf oder auch, wenn man will, eine Frage, die ebenso viele richtige Lösungen hat, wie es mögliche Kombinationen in den absoluten wie relativen Lagen der Völker gibt.
Fragt man dagegen, woran man erkennt, ob ein bestimmtes Volk gut oder schlecht regiert wird, so ist dies etwas anderes, und eine so gestellte Frage kann richtig beantwortet werden.
Indessen ist ihre Lösung noch nicht gefunden, weil sie jeder auf seine Weise lösen will. Die Untertanen preisen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit; der eine stellt die Sicherheit des Eigentums höher, der andere die der Person; dem einen gilt die strengste Regierung als die beste, dem anderen die Verhütung der Verbrechen: Der eine findet es schön, bei seinen Nachbarn gefürchtet zu sein, der andere möchte ihnen lieber unbekannt sein; der eine ist zufrieden, wenn Geld im Umlauf ist, der andere verlangt, daß das Volk Brot habe. Selbst wenn man über diese und ähnliche Punkte derselben Ansicht wäre, hätte man damit viel gewonnen? Da die moralischen Eigenschaften jedes genauen Maßstabes entbehren, würde man sich wohl über das Kennzeichen einer guten Regierung einigen, wie aber sollte dies bei einer moralischen Bewertung der Fall sein?
Mich persönlich setzt es immer wieder in Erstaunen, daß man ein ganz einfaches Kennzeichen absichtlich oder unabsichtlich nicht wahrnimmt. Was ist denn der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung? Doch nichts anderes als die Erhaltung und das Wohl ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen für ihr Wohlbefinden? Die Zunahme der Bevölkerung. Man suche also dieses vielumstrittene Kennzeichen nicht woanders. Bei Gleichheit aller übrigen Verhältnisse ist unstreitig die Regierung die beste, unter der sich ohne fremde Mittel, ohne Naturalisation, ohne Kolonien die Zahl der Staatsbürger vermehrt. Die Regierung dagegen, unter der ein Volk dezimiert wird, ist die schlechteste. Jetzt, ihr Rechenkünstler, macht euch ans Werk! Zählt, meßt und vergleicht!
Sicher, die Zahl der Staatsbürger allein gibt über deren Wohlbefinden nicht in allen Regionen dieser Welt gleichermaßen verbindliche Auskunft. Schließlich wäre die fast ausschließlich in der Dritten Welt angesiedelte Bevölkerungsexplosion dann ein Ausdruck guten Regierens, was – bei allem Respekt – eine gar zu kühne Vermutung sein dürfte. Im Gegenteil: Viele Kinder zu zeugen, ist – zum Beispiel in Afrika – seit Jahr und Tag nicht zuletzt dem Vorsatz geschuldet, sich auf diese Weise fürs Alter jene (Über-)Lebensversicherung zu schaffen, welche die offiziellen Lebensumstände eben nicht zu bieten haben; nicht nur, aber nicht zuletzt wegen schlechten Regierens. Und zwar in den betroffenen Ländern selbst als auch in jenen der Ersten Welt, die nicht zuletzt ja nur Erste Welt auf Kosten einer Dritten hat werden können. Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und er Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich. (Brecht)
Auf eben diese Erste Welt, die unsere also, darf sehr wohl angelegt werden, was Rousseau als natürlichsten aller denkbaren Maßstäbe guten Regierens benannte: Das Vertrauen der Mitglieder einer Gesellschaft auf ihr heutiges wie künftiges Wohlbefinden, das die Entscheidung für den eigenen Nachwuchs so maßgeblich mitbestimmt. Wie traurig es im heutigen Abendlande bei seinem doch so hohen Entwicklungsgrad darum bestellt ist, würde der große Franzose kaum für möglich halten. Denn erwiesenermaßen gründet sich der Rückgang der originären Bevölkerung eines Staates wie der Bundesrepublik Deutschland vor allem auf drei Ursachen: den immer größeren Egoismus, der Nachwuchs als Belastung und nicht als Bereicherung erscheinen läßt und diesen schon deshalb ablehnt; auf Angst davor, sich durch eigene Kinder die berufliche und damit die soziale Perspektive zu verbauen; oder auf jene pessimistische Überzeugung, daß man in einer immer kälteren und spannungsreicheren Welt Kindern ein Leben gar nicht erst zumuten könne.
Welche dieser Überlegungen auch jeweils obwaltet, für eines sind sie ganz sicher kein Beleg: für jenes »Gute Regieren«, das ausgerechnet aber die Erste Welt in Gestalt der Formel Good Governance der Dritten als Bedingung für Hilfe und Kooperation ultimativ auferlegt.
»Die Regierung dagegen, unter der ein Volk dezimiert wird, ist die schlechteste. Jetzt, ihr Rechenkünstler, macht euch ans Werk! Zählt, meßt und vergleicht!« Kein Problem heutzutage, die Statistik spricht Bände. Und auch ihr Urteil.