Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Januar 2008, Heft 2

Ein Halbmärchen

von Renate Hoffmann

Wohin trug eigentlich die Kanonenkugel den kaiserlich-russischen Rittmeister Herrn Baron von Münchhausen? Erwiesen ist (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit), daß der gewitzte Hieronymus im russisch-türkischen Krieg (1735–1739) außergewöhnliche Taten vollbrachte, die ihn zum Helden erhoben. Doch galt er als kluger Mann, der, wie er selbst sagt, weiß, daß Ruhm nur den höchsten Herrschaften zusteht, wenngleich sie außer ihren Lustlagern kein anderes Lager erlebt hätten. Zweifellos bleibt die tollkühne Idee, auf einer Kanonenkugel in die feindliche Festung einzudringen, um dort die Situation zu erkunden, der Einfall aller Einfälle.

Scheinbar aber lag zwischen den Fronten eine weite Wegstrecke – oder der Kugel fehlte die nötige Schubkraft, und sie flog im Langsamgang. Wie dem auch sei, Münchhausen hatte während der Luftfahrt erstaunlich viel Zeit zum Nachdenken. Er erwog, wie denn aus dem Türkencamp wieder herauszukommen sei. Man würde ihn gewiß nicht als Abgesandten Mohammeds empfangen, sondern als Spion. Demnach bestünden für ihn berechtigte Aussichten auf den Galgen – oder auf ein anderes fernöstliches Verfahren, um seinen endgültigen Abschied von der Welt zu nehmen. Was also tun?

In diesem Augenblick der Ratlosigkeit begegnete Hieronymus eine feindliche Kugel, die sich auf die russischen Belagerer zu bewegte. Heureka! rief er, schwang sich auf das Türkengeschoß und flog zum russischen Hauptquartier zurück. »Zwar unverrichteter Sache, jedoch wohlbehalten«, so erzählt der Baron.

Bis auf die Rückkehr ins eigene Feldlager mag alles rechtens zugegangen sein. Doch eben letzteres ist Geflunker. Er kam nicht dort an, wo er vorgab, daß er angekommen wäre. Vielleicht wollte sich Münchhausen die Peinlichkeit eines Mißerfolges ersparen. Er konnte ja diesmal kein positives Ergebnis vorlegen. Möglicherweise begingen auch die Türken einen ballistischen Fehler bei der Flugbahnberechnung ihrer Kanonenkugel. Der wagehalsige Rittmeister landete … im russischen Kaliningrad. Zu seiner Zeit hieß die Stadt Königsberg und gehörte zu Preußen.

Hie ronymus Karl Friedrich von Münchhausen, geboren zu Bodenwerder an der Weser, posiert in Kaliningrad im Zentralpark am Prospekt Mira (früher Hufenallee). Gepflegte Grünanlagen, Springbrunnen, besetzte Parkbänke, fotografierende Spaziergänger um sich, spielende Kinder bei sich. Obwohl kein Lüftchen weht, flattert sein Oberrock. An der Kuriertasche hat sich durch die Fluggeschwindigkeit eine Schnalle gelöst. In einer senkrecht stehenden Bronzeplatte ist Hieronymus lebensgroß als Silhouette ausgespart. Dreispitz, Degen, Tasche und Rockschöße (mit zwei Knöpfen!) brachte der Gestalter Georg Petau plastisch an dem imaginä-ren Umriß an.

Selbstverständlich hockt das Phantom auf einer Kanonenkugel. Sie ist echt, voluminös, blankgewetzt, metallisch glänzend. Die Kinder sind wie gebannt von ihr. Auf der pompösen Kugel sitzen sie und fliegen, fliegen, und ihre Phantasie breitet die Flügel aus.

Eine Tafel auf der Standfläche der Skulptur läßt in deutscher und russischer Sprache wissen, daß die Münchhausenstadt Bodenwerder zum 750. Jubiläum von Kaliningrad/Königsberg diese Plastik stiftete.

Nicht von ungefähr kam der Baron hier zu Boden. Er kannte die Stadt. Auf dem Weg nach Rußland im Jahre 1738 hatte er wahrscheinlich Königsberg passiert. Es war Winter. Und ihm widerfuhr die erste Episode seiner Wunderbaren Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustigen Abenteuer. Hieronymus band das Pferd in Dunkelheit und tiefem Schnee an einen gemutmaßten »Baumstaken« und schlief ein. In der Nacht schmolz der Schnee, und am Morgen hing sein Pferd an der Kirchturmspitze eines Dorfes.

In Wahrheit handelte es sich aber um die Spitze des Brückenhauses in Königsberg. Die alte Brücke (ehemals Hohe Brücke) von der Oktjabrskaja (Lindenstraße/Weidendamm) zum anderen Ufer des Pregelflusses hinüber zerstörte der letzte Krieg. Im Wasser sieht man noch die Rumpfstücke der Brückenpfeiler. Geblieben ist das Brückenhaus. Hoher, schmaler, jedoch zierlicher Backsteinbau. Mit zwei gestuften Schaugiebeln und schlankem Schmucktürmchen, das eitel an der Hausecke prangt. Der Turm trägt ein spitzrundes Dach, das Dach zusätzlich eine spitze Spitze. Kokett und ein wenig verloren steht das rote Haus in einem Gärtchen, umzäunt von kunstvollem Gitterwerk. Tür und Tor sind verschlossen. Es trauert um seine Brücke. Mit dem plumpen Betonprotz, der den Alten Pregel überquert, kann es sich nicht anfreunden.

Das Brückenhaus zehrt nun allein vom weltweiten Ruhm des Barons, dessen Gaul – verbürgt! – an seiner Turmspitze angeknüppert war. Hieronymus hatte vermutlich, durch Nacht, Schnee und Kälte geplagt, nur kurzfristig die Orientierung über den Ort der Begebenheit verloren. Denn Königsberg war schließlich kein Dorf!