von Erhard Crome
Zum Jahresende gibt es stets Rückblicke auf das Vergangene. Manches erscheint dann in dem eher milden Licht der Kerzen, also verklärt.
Es gibt aber keinen Grund, dem zu folgen. Die Beunruhigung, die in den Verhältnissen liegt, sollte uns auch beunruhigen. Die Herrschaft des Kapitals hat sich in diesem Lande weiter zur Kenntlichkeit gebracht. Das kommt vor allem in der Innenpolitik zum Ausdruck: Hartz IV, weiterer Abbau sozialer und politischer Rechte, Preistreiberei durch die Großfirmen, explodierende Managereinkünfte bei expandierender privater und öffentlicher Armut, Verschärfung der »Sicherheitsgesetze«.
Und das gilt, wenn es auch nicht so offen sichtbar geworden ist, ebenfalls für die äußere Politik. Die Kanzlerin hat ihr G8-Präsidieren absolviert und dabei vor allem George W. Bush hofiert. Die EU-Präsidentschaft wurde nicht zuletzt genutzt, um die sogenannte Verfassung neu einzutüten, darunter auch die dort niedergelegte Kriegsführungsfähigkeit. Dem Iran attestierte Frau Merkel einen Atombombenbau gerade in dem Moment, als sich die Informationen verdichteten, daß genau dies nicht der Fall sei, was bedeutet: Wenn Bush seine grauenerregende Karriere mit einem weiteren verbrecherischen Krieg krönen wollte, wird Deutschland nicht abseits stehen, wie es das unter Schröder zumindest politisch-diplomatisch bei der Anzettelung des Irak-Krieges tat. Statt dessen wird Deutschland die gewünschte Hilfestellung leisten.
Zugleich wurden die Beziehungen zu China absichtlich verspannt und die Rußland-Schelte, die durch verschiedene Regierende in Deutschland seit über hundert Jahren – schon bevor Rußland die »bolschewistische« Gestalt annahm – heimisch gemacht und immer wieder gern instrumentalisiert wurde, wieder ins Arsenal genommen.
Das figuriert dann bei Angela Merkel, wie jüngst auf dem CDU-Parteitag in Hannover geschehen, unter der Rubrik: »Menschenrechtspolitik und das Vertreten wirtschaftlicher Interessen überall in der Welt – das waren, das sind und das werden immer zwei Seiten ein und derselben Medaille sein«.
Lassen wir uns darauf doch einmal ein und glauben einen Moment lang, dies sei ernstgemeint: Wenn die deutsche Regierung über die mögliche Atombombe des Irans redet, warum nicht über die tatsächliche Atombombe Israels? Hätte das nicht mehr Glaubwürdigkeit, wenn man für den ganzen großen Raum des Nahen und Mittleren Ostens eine von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen freie Zone forderte? Warum wird über die »Menschenrechtsverletzungen« in China geredet, nicht aber über die durch die USA in den Folterkäfigen in Guantanamo oder die in Saudiarabien?
Es wird seit Jahrzehnten immer wieder behauptet, die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika würden »die gleichen Werte« teilen. Praktisch heißt das nun: Die deutsche Außenpolitik folgt der Herangehensweise der USA-Administration, die mit »Doppelstandards« hantiert. Die Menschenrechte werden instrumentalisiert und für eine imperiale Politik in Dienst genommen.
Zugleich setzte diese Regierung die Militäreinsätze deutscher Truppen in verschiedenen Teilen der Welt fort, getragen von einer breiten Mehrheit im Parlament, die im Gegensatz zu einer ebenso breiten Mehrheit in der Gesellschaft steht. Das Wettrüsten breitet sich in der Welt, angetrieben durch die beschleunigte Hochrüstung der USA, weiter aus. Es hat bekanntlich 2006 bereits den Stand aus dem Jahre 1988, also der Schlußphase des Kalten Krieges, wieder überschritten: 1200 Milliarden Dollar. China und Rußland »antworten« mit eigenen qualitativen Rüstungsprogrammen, ohne quantitativ gleichziehen zu wollen. Die EU baut ihre Interventionskapazitäten auf, um unabhängig von den USA auch militärisch Interessen verfolgen zu können, trotz aller »Freundschafts«- und »Werte«-Rhetorik.
In diesem Sinne ist die zielstrebige Ansammlung von Spannungsmomenten in der Politik gegenüber China und Rußland nichts weiter als der politische und ideologische Ausdruck der derzeitigen weltwirtschaftlichen Konkurrenzsituation. Auch gegenüber Indien verstärkt Deutschland die Spannungen – wenngleich das in diesem Falle nicht mit »Menschenrechts«-Argumenten, sondern mit der Frage erfolgt, ob dieser Konkurrent deutscher Außenhandelsinteressen denn noch »Entwicklungshilfe« verdiene. Die Konkurrenz zu den USA unterscheidet sich von der mit den drei anderen nur im Freundschaftsgerede, mit dem sie übertüncht wird.
Wir sind nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht in eine Epoche allgemeinen Friedens eingetreten, sondern in ein neues Zeitalter imperialer Kriege. Daran kann nicht oft genug erinnert werden.
Der bekannte angelsächsische Historiker Timothy Garton Ash verglich bereits vor einiger Zeit die derzeitige Situation mit der am Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals handelte es sich um die imperiale Konkurrenz zwischen Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Rußland und den USA. Heute ist es die Staatenkonkurrenz und Rivalität zwischen den USA, der EU, China, Indien – und in gewissem Sinne auch wieder Rußland. Vor einhundert Jahren ging daraus der Erste Weltkrieg hervor. Die Spannungselemente sammelten sich Schritt für Schritt an, ohne daß alle Beteiligten das so wollten oder auch nur wahrnahmen. Der Krieg war zunächst die nichtintendierte Folge der praktizierten Politik aller Beteiligten, bis dann eine Macht – damals Deutschland – ihn absichtlich vom Zaune brach.
Das Konfliktfeld, auf dem sich das regional besonders ausprägte, war damals der Balkan. Alle schürten die Spannungen, und niemand konnte oder wollte die einvernehmliche dauerhafte Regelung. Heute spielt diese Rolle der Nahe und Mittlere Osten, in dem der Konflikt zwischen Israel und Palästina sowie den arabischen Nachbarländern ebenso nur ein Teil ist – wie der Krieg im Irak, der angedrohte Krieg gegen den Iran und der Krieg in Afghanistan. Und »wir« sind dabei, und diese Regierung ist noch stolz darauf. Bleibt nur die Hoffnung, daß uns 1914 erspart bleibt. Noch ist es Zeit, politisch die Weichen anders zu stellen. Das allerdings hängt vor allem von der Mobilisierung alternativer Kräfte in unserem Lande selbst ab. Womit wir wieder bei der Innenpolitik wären.
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