Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 26. November 2007, Heft 24

Russische Friedhöfe

von Klaus Hammer

Tatjana Kuschtewskaja, Journalistin und Verfasserin zahlreicher Drehbücher und Reportagen über Rußland, lebt seit 1991 in Deutschland und hat ein aufregendes Buch über russische Friedhöfe geschrieben. In erzählender Weise werden Spaziergänge auf russischen Friedhöfen, so der Untertitel, unternommen, und das, was einem Spaziergänger so auffällt, die Berühmtheit des hier Bestatteten, die Anlage des Grabes, die Schrift, mit der des Toten gedacht wird, die Menschen, mit denen man hier zusammentrifft – darüber wird berichtet. Unwesentliches mischt sich mit Wesentlichem, Alltägliches mit Dauerhaftem, Triviales mit Bedeutsamem. Tatjana Kuschtewskaja vermittelt mit ihrer Kulturgeschichte des Todes eine dem Leser nützende Lebenskunst. Verse von Wassili Schukowskij – sie gelten als einer der bedeutendsten russischen Epitaphe – bezeugen: Sag nicht betrübt: sie sind nicht mehr, / Sage in Dankbarkeit: sie waren!
Die Autorin berichtet über die Grabstätten der russischen Zaren in der Peter-Paul-Kathedrale, die ein Pflichtprogramm für jeden St.-Petersburg-Besucher sind. Nach dem Tode der Zarin Katharina II., die dem Blute nach eine Deutsche, dem Geiste nach eine Russin war, hatte ihr Sohn Pawel I. aus Rache eine Posse inszeniert, indem er die Gebeine seines 34 Jahre zuvor ermordeten Vaters exhumieren und seine entzweiten Eltern »zur Versöhnung vor der Ewigkeit« vereinen ließ. Alle Verschwörer, die den frühen Tod seines Vaters verschuldet hatten, mußten, soweit sie noch lebten, an der Spitze des Trauerzuges gehen. Pawel schien geradezu besessen, die Gräber aller Liebhaber seiner Mutter zu entweihen. Er selbst wurde auch von Verschwörern umgebracht.
Noch eine andere Geschichte mag wissenswert erscheinen. In den neunziger Jahren wurden die Gebeine der von den Bolschewiken ermordeten Romanows, des letzten russischen Zaren Nikolaj II. und seiner Familie, bei Jekaterinenburg aufgefunden und nach Petersburg übergeführt. Da nicht mit letzter Gewißheit geklärt werden konnte, ob es sich wirklich um die sterblichen Überreste der Romanows handele, verweigerten die höchsten kirchlichen Würdenträger die Teilnahme an der Beisetzung, und der Geistliche, der die Gedenkmesse zu halten beauftragt wurde, zog sich aus der Affäre, indem er die Namen der Romanows nicht nannte, sondern feierlich sprach: »Ihre Namen aber, Herr, weißt du allein.« Wer also liegt im Grab des Zaren?
Der Tod von Nikolaj Gogol – er soll an Todesfurcht gestorben sein – ist mit einer traurigen Geschichte verbunden. Ursprünglich befand sich sein Grab auf dem Friedhof des Moskauer Danilow-Klosters. Als dieser 1931 eingeebnet werden sollte, fand man im Sarg Gogols ein Skelett ohne Schädel. Viele der Exhumierung beiwohnende Schriftsteller sollen ein »Souvenir« aus dem Sarg haben mitgehen lassen. Als die Gebeine von Gogol damals auf den Friedhof des Neujungfrauen-Klosters umgebettet wurden, setzte man einen neuen Grabstein: Von der Sowjetischen Regierung. Der bisherige Grabstein, Golgatha genannt, ging in die Hände von Gogol-Verehrern über und dient dem 1940 verstorbenen Verfasser des Romans Der Meister und Margarita, Michail Bulgakow, als Grabstein. Im alten Teil des Neujungfrauen-Friedhofs, im Kirschgarten, befinden sich die Gräber von Gogol, Tschechow, Stanislawskij und Bulgakow. Tschechows Grabmal wird von drei eisernen Spitzen bekrönt – eine Versinnbildlichung der Drei Schwestern oder der drei Tschechowschen Lebenssäulen Glaube, Liebe, Hoffnung?
Im Schreckensjahr 1921 starben der Dichter Alexander Blok, und der Dichter Nikolaj Gumiljow wurde als »Volksfeind« erschossen. Blok wurde auf dem Smolensker Friedhof in Petrograd beerdigt. Dagegen ist unbekannt, wo Gumiljow verscharrt wurde. Auf dem St. Petersburger Nikolskoje-Friedhof hingegen, läßt uns die Autorin wissen, liegen Persönlichkeiten, die die gesamte russische Geschichte des vorigen Jahrhunderts repräsentieren. Worauf geht der Brauch zurück, Männer, die sich um das Vaterland verdient gemacht haben, an der Kremlmauer zu beerdigen? Seit der Oktoberrevolution von 1917 sind hier eine unbekannte Zahl von Revolutionären, hohen Partei- und Staatsfunktionären, Führern der Komintern und der sogenannten Bruderparteien, Militärs und nicht zuletzt – seit seiner Entfernung aus dem Mausoleum – Stalin beigesetzt worden.
Auf dem Moskauer Neujungfrauen-Friedhof ist die ganze sowjetische Nomenklatura in Pomp und Pracht versammelt. Hier liegen aber auch die meisten bekannten Schriftsteller, Komponisten, Theaterregisseure, Sänger, Maler und auch Wissenschaftler. Auf dem Grab der Präsidentengattin Raissa Gorbatschowa erhebt sich die Skulptur einer trauernden jungen Frau. Die Gebeine des weltberühmten Sängers Fjodor Schaljapin sind erst 1984, fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, von Paris nach Moskau überführt worden. Jetzt befindet sich an seinem Grab die Marmorskulptur eines in einem Sessel sitzenden Mannes, unschwer als Schaljapin erkennbar.
Mit dem Wagankowskoje-Friedhof dagegen »steht ganz Moskau auf du und du, sowohl im Tod als auch im Leben«, schreibt Tatjana Kuschtewskaja. »Hier liegen manche, die alles andere als Kinder von Traurigkeit gewesen sind.« Auch dieser Friedhof wartet mit einer Menge bedeutender Namen auf, sogar von Persönlichkeiten aus vorrevoluionärer Zeit, die sich um die russische Kultur und Wissenschaft verdient gemacht haben. Der Dichter Jessenin wurde nur dreißig Jahre alt, hinterließ aber ein wunderbares dichterisches Oeuvre. Er soll sein letztes Gedicht, Leb wohl, mein Freund, leb wohl, mit dem Blut aus seiner Pulsader niedergeschrieben haben: Sterben ist nicht neu in diesem Leben, / Leben aber auch nicht eben neuer. Voller Mißbilligung konterkarierte ein anderer Dichter, Wladimir Majakowskij, diese Zeilen: Sterben ist nicht schwer in diesem Leben / Leben aufbauen dagegen schwer. Er hat vier Jahre später ebenfalls Selbstmord verübt, seine Urne befindet sich auf dem Neujungfrauen-Friedhof.
Das berühmteste Grab auf diesem Friedhof ist aber das des Schauspielers, Dichters und Barden Wladimir Wyssozkij, der mit seinen Liedern und Auftritten den Behörden immer ein Dorn im Auge gewesen ist. Er sollte auf einem anderen Friedhof beerdigt werden, aber seine Verehrer sammelten viel Geld und erwarben für ihn »ein Fleckchen Wagankowo-Erde«. Sein Grab bezeichnet ein höchst sinnvolles Denkmal: ein Barde, von Fesseln umschlungen, über dem Kopf die Gitarre wie ein Nimbus, zu seinen Füßen hunderte von Blumen.
Die Verfasserin führt uns bis zu ihrem Heimatfriedhof in der ukrainischen Steppe, sie stattet dem Friedhof des auf einem Felsen gelegenen Swjatogorsker Höhlenklosters mit den Grabstätten des Fürstengeschlechts Golizyn einen Besuch ab, sie verweilt am Grabe des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko am Dnjepr-Hochufer bei Kanew, sie entdeckt in den älteren Höhlen des Kiewer Höhlenklosters den Sarg des legendären Recken Ilja Muromez, des Helden vieler russischer Volksmärchen mit glücklichem Ausgang, und sie sucht die Dichtergräber auf den Kiewer Friedhöfen auf. »Jedes Grabmal hatte seine Geschichte, eine des Lebens, Liebens, Leidens und Sterbens dessen, der unter ihnen begraben lag«, stellt Tatjana Kuschtewskaja fest. Dieses Buch ist ein beredtes Zeugnis dafür.

Tatjana Kuschtewskaja: »Hier liegt Freund Puschkin …« Spaziergänge auf russischen Friedhöfen. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner. Mit 61 Schwarz-Weiß-Fotografien, Grupello Verlag Düsseldorf 2007, 224 Seiten. 22,90 Euro