Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 26. November 2007, Heft 24

Mitternacht am Broadway

von Henryk Goldberg

Doch, es gab schon Autos in meiner Kindheit. Aber Grammophone auch. Ich entdeckte es in unserer Wohnung. Es befand sich in einem schwarzen Koffer, den konnte man aufklappen und dann diesen Trichter herauschwenken. In einer Ecke war ein kleines Fach für die Nadeln und an der Seite ein Loch für die Kurbel. Ich habe die Kurbel einmal zuviel gedreht, weshalb das Gerät zwar noch existiert, aber es schweigt still, was im übrigen kein Verlust ist.
Aber damals, in den guten, alten Fünfzigern, war es toll. Es gab auch Platten dazu. Opern und dieser ganze Quatsch, wo man den Text nicht verstand, aber auch diese eine, wunderbare Schallplatte. Da sang einer Das hab ich in New York gesehn, um Mitternacht am Broadway, und das Lied handelte von einem unglaublichen Vorkommnis. Es soll da in dieser Stadt New York eine Frau – eine Frau! – in einem Unterrock – einem Unterrock! – gesehen worden sein. Meine Mutter behauptet, dieses Lied habe sie zur Verzweiflung gebracht, so oft wie ich es zu Gehör brachte.
Das war aber auch …: Im Unterrock!! Mag sein, daß damals der Name dieser Stadt, in der solche atemverschlagende Dinge geschehen konnten, begann, für mich eine Magie zu entwickeln. Nach Kötschenbroda allerdings – der Expreß dorthin wurde auf der gleichen Platte besungen – wollte und kam ich nie, wer will schon nach Radebeul-West. Obwohl, es ist Karl Mays Ort, aber das ist eine andere Geschichte.
Irgendwann aber hatte meine arme Mutter Glück, das Gerät ging entzwei. Fortan fand es mit seiner nun unlimitiert drehbaren Kurbel Verwendung als Steuerstand der Straßenbahn, die ich auf dem Schrank einrichtete, eine weitere Steuermöglichkeit ergab sich durch die Kombination eines Bügelbrettes mit der Kaffemühle. Es war jener Schrank, auf dem ich nicht nur Straßenbahn spielte, sondern, unter Einbeziehung der kleinen Schwester, auch Flugzeug. Das Flugzeug war sie, ich ließ sie auf das Bett fliegen. Einmal, das Flugzeug verfehlte, weil es beim Start zappelte, die Landebahn und kam auf der Kante an, führte das zu einer klitzekleinen Gehirnerschütterung mit begleitendem Nasenbluten, und das großherzige Geschenk an mein Fräulein Mutter zum diesjährigen Ehrentag soll sein, daß ich ihr die aus der Flugunfähigkeit der doofen Schwester resultierende Ohrfeige verzeihe.
Später gab es einen richtigen Plattenspieler in dieser Familie, und ich durfte ihn mitbenutzen. Und noch später, als ich, gerade volljährig, Geld verdiente, kaufte ich einen. So beschwingt habe ich wohl nie wieder etwas gekauft. Unser Vater konnte dann manchmal in den Westen fahren, und zu der Konterbande, die er ostwärts mit sich führte gehörten auch Schallplatten.
Allerdings war sein Empfinden für jugendliche Musikinteressen eher vage. Die Augen tränten mir beinahe und das Herz richtig, als er stolz lächelnd Roland Kaiser und Daliah Lavi auspackte. Es brauchte sehr, sehr viel Stärke für den überschwenglichen Dank, das war wohl eine meiner Guttaten. Meine kleine Schwester bekam eine Platte von Adamo, und das stimulierte sie, gemeinsam mit Freundin Maria, zu einer frühkindlichen Demonstration aufrechten Denkens.
Voll der schönsten Gefühle stöhnten sie Protest über die unrechtmäßige Hinrichtung eines nichtweißen Mitbürgers, der dann nicht einmal in den Himmel durfte, Begründung wie folgt: Neger! Du bist ein armer Neger! Die Zeile gelang immer besonders expressiv, damals wußte sie noch nichts von kleinen Händen. Aber sind so gute Neger war schon mal ein Anfang. Natürlich, CDs sind besser. Doch mit einem CD-Player kann niemand vernünftig Straßenbahn spielen.