Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 15. Oktober 2007, Heft 21

Tulpen aus Amsterdam

von Horst Jakob

Daß Finanzkrisen an den Börsen, wie wir sie im Kontext mit Immobilienspekulationen gerade wieder erleben können, kein Phänomen der Moderne sind, dürfte allenthalben geläufig sein. Wie weit ihre Geschichte zurückreicht und welch Gegenständlichkeiten sie auszulösen vermochten, macht einen Blick ins Vergangene durchaus erkennbar, auch weil sich die Mechanismen von Geldraffung und Geldvernichtung über die Jahrhunderte bis heute letztlich als die gleichen erwiesen haben.
Die wohl älteste Spekulationsblase, die sich seit Börsen-Gedenken aufblähte, um dann mit verheerender Wirkung zu platzen, dürfte die Tulpenzwiebel-Hausse gewesen sein. Immerhin vier Jahre lang, von 1634 bis 1637, erschütterte die spekulative Vermarktung dieser Frühlingsblume das wohlständige Holland. Aus der Türkei stammend, war die Zwiebel der so leuchtend bunten Blume ausgangs des 16. Jahrhunderts vom Hofe Suleimans des Prächtigen erst an den des Wiener Kaisers Ferdinand und später dann in die Niederlande gebracht worden. Das Jahr 1594 erlebte das erstmalige Erblühen von Tulpen im Leidener Hortus Botanicus.
Kaum, daß es wenige Jahre später Züchtern durch Kreuzungen gelungen war, diesem Liliengewächs seine ganze Farbenvielfalt zu entlokken, erblühte nahezu explosiv die Begierde nach dieser Rarität. Da aber – gemessen an der plötzlichen Nachfrage – vergleichsweise wenige Zwiebeln im Umlauf waren, katapultierte deren Preis in schwindelerregende Höhen. Zunächst eine Blume ausschließlich der Hochwohlgeborenen, wurde sie bald auch zum Prestigeobjekt der weniger Begüterten. Was zunächst für einen Gulden zu haben war, kostete nun tausend: pro Zwiebel! Bald wurden seltene Züchtungen an holländischen Börsen wie Aktien gehandelt, per Optionsschein war es durchaus möglich, aus dem eingesetzten Kapital in wenigen Wochen das Fünfzigfache herauszuholen. Der Erlaß eines Tulpengesetzes, das schon die Beschädigung der edlen Zwiebel mit Gefängnisstrafe bedrohte, war ebenso folgerichtig wie die Fertigung ganzer Kataloge als Basis der Spekulation. Gärten, in denen man niederländische Tulpen züchtete, wurden mit raffinierten Alarmsystemen ausgestattet, die Fremde von den Beeten fernhielten.
Die Blase der Tulpenzwiebel-Hausse blähte sich in atemberaubendem und von niemandem mehr kontrolliertem Tempo auf; 1636/37 hatte sie die Grenze ihrer Dehnbarkeit erreicht. Wie Börsengeschichtler zu berichten wissen, kostete eine Tulpenzwiebel der seltenen Sorte Semper Augustus im Jahr 1624 noch 1200 Niederländische Gulden, 1625 schon dreitausend, noch ein Jahr später zahlte ein Käufer für diese Zwiebel 4600 Gulden, einen Wagen und zwei Stuten samt Zaumzeug und Geschirr. Eine Zwiebel der ebenfalls raren Sorte Vizekönig ging für zwei Fuder Weizen, vier Fuder Roggen, vier fette Ochsen, acht fette Schweine, zwölf fette Schafe, zwei Fäßchen Wein, vier Tonnen Bier, tausend Pfund Käse und obendrauf noch einen Silberpokal, ein Bett und einen Anzug an ihren neuen Eigner. 1637 tauschte schließlich ein Brauereibesitzer drei umworbene Zwiebeln gegen seine Utrechter Brauerei ein. Diese verkörperte einen Wert von rund 30000 Gulden; ein Betrag, für den man zu jener Zeit drei Amsterdamer Grachtenhäuser kaufen konnte!
Aber wie es eben so ist beim Spekulieren: Die Kuh geht solange aufs Eis, bis es bricht. Im gleichen Jahr noch, also 1637, platzte die Blase, die Kurse für Tulpenzwiebeln nahmen jenen Weg in den Abgrund, den die Jünger der »New Economy« unserer Tage noch in schmerzlicher Erinnerung haben und den die Betroffenen der derzeitigen Immobilienkrise zu Recht so fürchten. Kursverluste bis zu neunzig Prozent zogen massenhaft Konkurse nach sich und legten des längeren die komplette holländische Wirtschaft lahm. Geschäftsleute und Privatpersonen verarmten en masse, unter ihnen übrigens auch Rembrandt, der sein Haus 1657 im Langzeitgefolge der Tulpenkrise versteigern mußte und zwölf Jahre später verarmt starb.
Wer sich in die Geschichte der Börsenkrisen ein wenig vertieft, weiß, daß die Gier nach dem schnellen Profit bestenfalls zu dämpfen, nicht aber per Einsicht zu überwinden ist – solange jedenfalls nicht, wie eine kleine Minderheit selbst noch an den größten Desastern verdient, der Tanz um das Goldene Kalb zum Volkstanz erklärt und zu ihm von den allgegenwärtig smarten Dirigenten im liberalen Frack immer wieder aufgespielt wird. Und – auch dies gehört angemerkt: solange sich so viele Tänzer an diesem Reigen beteiligen.
Die drakonische Bestrafung, die Mose in biblischen Zeiten über die israelitischen Tänzer um das Goldene Kalb kommen ließ, hat keine nachhaltige Wirkung gehabt. »Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb«, bemerkte denn auch Max Frisch resigniert. Seit 1985, als der große Literat dies resümierte, ist nichts geschehen, was ein optimistischeres Fazit zuließe; bis jetzt jedenfalls.