Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 29. Oktober 2007, Heft 22

Klassikimpulse aus Venezuela

von Jens Knorr

Wenn es gilt, neue Gesichter in den Klassikmarkt zu drücken, ist man in den Marketingabteilungen der »Major Labels« mit Vergleichen nicht zimperlich. Ein junger Pianist fungiert als der neue Glenn Gould, eine Sängerin mit »Top Body« als die neue Callas, ein mittelgewichtiger Dirigent als der neue Furtwängler.
Solch dumme Vergleiche sind dem venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel und uns bisher erspart geblieben. Wer zu der Aufnahme von Mahlers Fünfter mit dem Jugendorchester »Simón Bolívar«, Venezuela, unter Dudamel greift – und er sollte unbedingt zugreifen! (Deutsche Grammophon 00289 477 6545) –, der erlebt keine pubertären Überrumpelungseffekte, keine Interpretationsexzesse, »das largo zu langsam, das presto zu schnell«, so Mahlers Stoßseufzer.
Aber der bekommt die problematische Architektonik des Ganzen verblüffend plausibel ausgelegt, die ausdifferenzierte Instrumentation, die vertrackten Stimmverläufe so durchhörbar, die Vortragsbezeichnungen so gewissenhaft wie nur irgend möglich ausgeführt; der bekommt, von der crescendierenden Triole der Solotrompete eingangs des ausdrucksvoll ausdruckslosen Trauermarschs an über Verzweiflungssturz, Pogrom und Glückswirbel und Weltabhandenkommen hinan zum finalen Liebesjubel, eine Fünfte, die sich gewaschen hat. So dirigiert man mit sechzig, aber doch nicht mit 26! Und so spielt man doch nicht, wenn man unter 25 ist und aus Venezuela kommt!
Wen sonst als Mahler oder Beethoven – eine Einspielung von Beethovens 5. und 7. Symphonie unter Dudamel liegt vor (Deutsche Grammophon 00289 4776228) – sollte denn spielen, wer inmitten einer zerrütteten Welt aus Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogen aufwächst? Die Weltstars der Klassik werden kaum mehr in Deutschland geboren und schon gar nicht gemacht.
Gustavo Dudamel ist ein Kind der Fundación del Estado para el Sistema de Orchesta Juvenil e Infantil de Venezuela, kurz Fesojiv oder el sistema genannt, mit welcher der venezolanische Staat seit nunmehr dreißig Jahren den künstlerischen Nachwuchs vor allem aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten fördert, Kindern und Jugendlichen Selbstachtung, Identität, soziale Kompetenz, Disziplin, Ziele gibt: Hoffnung. Während in Deutschland vielerorts Musik als Schulfach nicht mehr flächendeckend angeboten wird, das Erlernen eines Instruments für viele unerschwinglich geworden ist, vermitteln in Venezuela 15000 Musiklehrer einer viertel Million Kinder musikalische Grundlagen, und zwar kostenlos, und viele der Kinder spielen in den 125 Jugendorchestern, mehr als in Vereinen Sport machen. Es ist eine Musikbewegung, die eine Volksbewegung ist.
Gustavo Dudamel, 1981 geboren, begann mit zehn Jahren Geige zu spielen, mit 14 zu dirigieren, wurde mit 17 Musikdirektor des Jugendorchesters »Simón Bolívar«. Ab 1999 studierte er bei José Antonio Abreu, dem Dirigenten, Komponisten, Politiker, dem Schöpfer und Leiter des »sistema«. Auf Abreus Anregung hin erarbeitet Dudamel Mahlers Fünfte, dirigiert sie 2004 beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb der Bamberger Symphoniker – und gewann. Er arbeitete mit den großen Orchestern der Welt, mit Barenboim, Rattle und Abbado, mit dem er auch Mahlers Fünfte studierte. In diesem Jahr wurde Dudamel Chefdirigent der Göteborger Symphoniker.
Alfieris E la fama? und Gozzis E la fame? hat der Dichter und Linksterrorist Georg Büchner seinem deutschesten aller deutschen Lustspiele als Motto vorangestellt. Die kunsthungrigen Musiker des Jugendorchesters »Simón Bolívar«, Venezuela, auch dieses eines der großen Orchester der Welt, beantworten die eine wie die andere Frage mit ihrem europäischen Klassiker. Ihr Ton ist nicht satt! Sie stellen in Mahlers Schicksalssymphonie das Eigentliche aus dem Uneigentlichen wieder her. Das ist der Mahler-Ton, der nur von ihnen kommen kann. »Sie wollten das Werk unbedingt aufführen. Ich mußte ihnen einfach folgen.« Gustavo Dudamel ist kein Dirigent, der aus dem Elend kommt, aber sehr wohl ein Dirigent, dessen Wirken mit dafür sorgt, daß die wirklich wichtigen Impulse für die klassische Musik derzeit vor allem aus Venezuela kommen. Impulse nicht nur für die Musik.