Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 15. Oktober 2007, Heft 21

Das große Fest

von Sibylle Sechtem

Es begab sich dieser Tage in der in Deutschlands Osten gelegenen Stadt P., daß ein runder Geburtstag zu feiern war. Auf sechzig Jahre blickte der Jubilar zurück, und weil es nicht irgendeiner war, der da im Mittelpunkt stand, sondern ein Funktionär von Rang, tätig als solcher nicht erst in der neuen, sondern auch schon in der alten Zeit, hatten sich eingefunden, ihm die Hände zu schütteln und Festreden darzubringen, nicht nur die beiden Vorsitzenden der Partei, der er prägend angehört hat von Anbeginn, und weiter die Spitzen der Bundestagsfraktion, sondern – wiewohl auf politisch anderer Seite stehend – auch der Ministerpräsident des Landes und so mancher sonst, der einst Ministerämter bekleidet hatte, und schließlich gar ehemals erste Sekretäre von ehemaligen Bezirksleitungen der untergegangenen Partei des verschwundenen Landes und Etliche mehr »aus der Vergangenheit«.
Der 60. Geburtstag eines Sozialisten. Gefeiert in einer Atmosphäre ausdrücklich parteiübergreifenden Respekts. Für ein paar Stunden durfte man, weil unter den Ex-Ministern auch solche aus dem Westen waren, glauben, daß es vielleicht doch ernstgemeint sein könnte mit der deutschen Einheit und dem Zusammenwachsen und dem Bewußtsein, daß vierzig Jahre geteilten Deutschlands gemeinsame Geschichte sind und nicht entsorgt werden können durchs unablässige Verteufeln des längst Verblichenen eines Gemeinwesens durch das sich auf Ewigkeit sieghaft dünkende andere. Viel Witz auch schien auf in der einen oder anderen Laudatio, wie etwa in dem Moment, da der Ministerpräsident zu erklären versuchte, wie es denn hat kommen können, daß er, der einst in waghalsiger Opposition zur allmächtigen, vom Jubilar repräsentierten Einheitspartei gestanden hatte, nun mit ihm, der seinerseits in die Opposition geraten war, zu mancherlei gemeinsamem Handeln gefunden hatte, und daß er davon auch jetzt nicht lassen werde, obwohl doch einer der beiden Vorsitzenden des Gefeierten neulich noch seines, des Ministerpräsidenten, Vorsitzender gewesen war.
Ja, es war ein denkwürdiger Tag, und die Reden und die an der Wand aufscheinenden Bilder aus dem Leben des Jubilars, die Lieder und die Erinnerungen trieben Tränen auch in die Augen so mancher, die eigentlich ganz cool hatten bleiben wollen. Was wunder – wohl keiner hatte ja, als der Neuanfang gewagt worden war für eine sozialistische, linke Partei im Dezember 1989, geglaubt, daß man sich achtzehn Jahre später zu derartigem Feiern würde treffen können.
Aber hier und da sah man im feierlichen Nach-Rede-Getümmel auch Querulanten im Gespräch. Nein, keine, die der Sache selbst nicht gewogen gewesen wären. Aber es hatten sich festgehakt in ihren Köpfen Ideen, auf die – so glaubten sie – man sich 1989/90 geeinigt hatte ein für allemal und die zu tun hatten auch mit einer neuen Art der Kultur, die sie nun plötzlich schmerzhaft vermissen mußten. Denn seltsam: In keiner der preisenden Ansprachen war etwa vom Volk die Rede gewesen, dem Volk, das sie alle – den Jubilar wie auch seine Parteifreunde – erst getrieben hatte zu dem, was sie dann selbst getan hatten zur Erneuerung der alten Partei, der sie so lange angehört hatten, und auch vom Wirken und Drängen und aufopferungsvollen Im-Alltag-Sein der Basis der Partei hatten die Redner nichts verlauten lassen und nichts von dem, was Künstler und Wissenschaftler zu ihrem – der Parteiführer – Weg ins Neue beigetragen hatten. Mit einigem Befremden auch hatten die Unzufriedenen vernommen, mit welcher Emphase von der Spitze herab gewürdigt worden war, daß der Jubilar sein segensreiches Wirken für die neue Partei aus der »zweiten Reihe« heraus betrieben und sich dabei um die Tatsache, daß andere in übergeordnete Funktionen »gewählt« worden waren, nicht geschert hatte. Solche Adelung althergebrachten, an Wahlfunktionen vorbei agierenden Strippenziehertums erschien ihnen fehl am Platze, aber es war diese Adelung auch wiederum nicht gar so verwunderlich, denn genauso althergebracht war es ja, daß Frauen nicht zu den Festrednern gehörten, sondern lediglich die Rolle des schmückenden Beiwerks spielten, und althergebracht auch, daß das Widersprüchliche im Leben und Handeln des Gefeierten so gänzlich ausgespart blieb.
Soviel Altes also im (angeblich) Neuen – und haben sie ihrem Ärger darüber lauthals Luft gemacht, die Querulanten? Natürlich nicht. Gespürt haben sie einmal mehr die Kraft, die von Persönlichkeiten ausgehen kann, denen sich viele wonnevoll unterordnen, und wie stark er ist, der Sog, mit dem die wonnevolle Unterordnung der einen zum Maßstab auch für die anderen wird, die noch glauben, sich ein bißchen widersetzen zu können. Vor Augen geführt worden ist ihnen ein erneutes Mal, wie schmal der Grat ist, der das Erlebte vom Personenkult trennt. Da ist gut spotten über die, die sich früher haben hinreißen lassen von solcherart inszenierter, sich aller Gefühle bemächtigender Würdigung, zu deren Bejahung oder doch mindestens Nicht-Verneinung sie auch dann, wenn sie den einen oder anderen Protest in sich verspürten, »in der Sache« tausend Gründe zu haben vermeinten.
Weit, sehr weit ist der Weg zu einer neuen sozialistischen Kultur.