Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Kulturlosigkeit?

von Uwe Stelbrink

Sibylle Sechtem hat im vorigen Blättchen (Haut den Lafo?) mangelnde Kultur und damit ein falsches Sozialismusverständnis bei einem ganzen Führungszirkel der LINKEN ausgemacht. Und Sibylle Sechtem glaubt, es handele sich um einen eher von Inhalten unbeschwerten Machtkampf, da bei der LINKEN eh noch alles in Bewegung und auf der Suche sei und demzufolge keine klaren Positionen auszumachen.
Sie hat recht: Da findet ein veritabler Machtkampf statt. Allerdings: So inhaltsleer, wie er erscheinen mag, ist er nicht. Er kann nur nicht mit klaren Aussagen geführt werden, denn das offene Austragen der eigentlichen Differenz würde die jungvermählte LINKE gleich wieder vor den Scheidungsrichter bringen – wenn auch die dann Getrennten keineswegs identisch mit den vormaligen Brautleuten wären.
Oskar Lafontaine – man mag zu ihm stehen, wie man will – hat mit der WASG eine schwerwiegende Mitgift in die LINKE eingebracht: Seine wie die Erfahrung vieler Gewerkschafter und ehemaliger SPD-Mitglieder. Und die lautet: Wenn sich eine Partei aus reinem Machtwillen (»Gestaltungswillen« heißt das im Parteichinesisch) von den Interessen ihrer eigenen sozialen Basis abkoppelt, verliert sie nicht nur ihren Einfluß, nicht nur an Ansehen und Glaubwürdigkeit, sondern wird zum reinen Erfüllungsgehilfen derer, die dieses Land wirklich regieren, den Großkonzernen und dem mit ihnen verbundenen Machtklüngel, der sich gern als Elite beweihräuchern läßt.
Lafontaine hat dabei selbst lange mitgespielt, ob aus Überzeugung, aus »Pragmatismus« oder der Erkenntnis, daß bis 1989 in der BRD außerhalb des konservativen Mainstreams andere gesellschaftliche Ziele nur in der SPD mit Aussicht auf eine halbwegs ernstzunehmende Resonanz zu formulieren waren und in der Sozialstaatspolitik und einer veränderten Außenpolitik der SPD-dominierten Regierungen auch gewisse praktische Ansätze fanden. Daß man damit dem im Berliner SPD-Programm als Ziel sozialdemokratischer Politik deklarierten Demokratischen Sozialismus um keinen Schritt näher kam, wird dem Realisten Lafontaine nicht entgangen sein. Daß es erst Schröders kompromißlosen Hinstrebens zur Neuen (alten) Mitte bedurfte, um Lafontaine zum Ausstieg aus der Regierung zu bewegen, mag ihm tapfer ankreiden, wer gegen die sozialismusferne SED-Politik auftrat und seine Posten, sofern er welche innehatte, aus eben diesem Grunde niederlegte. Wer Lafontaines Weg aus der SPD in die WASG und mit ihr in die LINKE als Gesinnungslosigkeit diffamiert, offenbart nur seine eigene Unfähigkeit und seinen fehlenden Mut, aus Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen.
Nun ist Lafontaine genauso wenig frei von Fehlern wie jeder andere. Da er Politiker ist, sind seine Fehler politische. Als ich die Debatte um seine »nationalistische« Argumentation zu »Fremdarbeitern« verfolgte, erinnerte ich mich an eine Diskussionsrunde in einem Häuschen in Pankow, in einem Viertel, in dem nicht jeder wohnen konnte. Da saßen Menschen mit »guten Kontakten in die SPD-Führung«, SED/PDS-Mitglieder und einige überall schon Ausgetretene und überlegten, wie man der zu erwartenden Zersplitterung der Linken im Gefolge der ins Haus stehenden »Wiedervereinigung« und dem befürchteten Wiedererstarken des Neonazismus auch im Osten entgegenwirken könne. Da lag ein Programmentwurf auf dem Tisch für eine Nationale Sozialistische Arbeiterpartei. Der Autor räumte ein, nein: betonte, ganz bewußt sich in Sprache und Formulierungen bei der NSDAP bedient zu haben. Anders seien »die Menschen« nicht zu erreichen. Der Entwurf wurde abgelehnt, weil alle am Tisch die Gefahren erkannten, die in der Bedienung nationalistischer Gefühle liegen. Den Fehler haben wir 1989 nicht begangen, dafür in Folge viele andere.
Lafontaine mag in manchen Formulierungen in die Nähe dieser Gefahr gekommen, vielleicht auch bewußt gegangen sein. Daß es ein Fehler war, hat er längst eingeräumt.
Wie gesagt, man kann zu Lafontaine stehen wie man will. Von einem – und da liegt der inhaltliche Kern des derzeit in der LINKEN laufenden Machtkampfes – will er derzeit nicht lassen: Wenn die Interessen der Ausgegrenzten, der Verhartzten, der Arbeiter und Angestellten, der Kinder und Alten, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zum Gegenstand herrschender Politik werden sollen, muß eine andere Gesellschaft her. Und die wird was mit dem zu tun haben (müssen), was im Kürzel Sozialismus genannt wird und als solcher als diskreditiert gilt. Das muß wieder offen ausgesprochen werden. Als denkbare Möglichkeit aus der Populismus-Schelte herausgeholt werden. Nicht nur in Parteiprogrammen und wohlfeilen Parteitagsreden, sondern in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung.
Und es muß zur Forderung gemacht werden, was heute und jetzt in diesem reichen Lande schon möglich wäre, um die Lebenssituation vieler Menschen nachhaltig zu verbessern. Das ist Realpolitik. Wohl wissend, daß man solche Tagesziele in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht in der(en) Regierung, als Teil des Macht- und Unterdrückungsapparates erreicht, sondern im Erzeugen politischen Drucks auf eben diesen Machtapparat. Als Teil, gar noch als Minderheitsbeteiligter in einer Regierung, bliebe einem nur der Kuhhandel um diese oder jene Abmilderung von Sozialabbau gegen irgendeine andere Schweinerei, die dafür im Gegenzug hinzunehmen ist.
Da liegt der Hund begraben. André Brie, Wulf Gallert, Klaus Lederer und andere, die Sibylle Sechtem zitiert, werden sich hüten, den Hund beim Namen zu nennen. Prominentere LINKE behaupten, da läge gar kein Hund. Und Lafontaine? Er baut seine politischen Positionen beharrlich aus und – auf Zeit. In der Tat wird erst die Zeit zeigen, ob die LINKE ein breit und auf Zukunft angelegtes politisches Projekt des realen Gesellschaftswandels wird oder ob sich der Teil der Führungsschichten durchsetzt, dem schon heute das Senatorenhemd näher als die Jacke der Mitglieder, Wähler und Nichtwähler ist.