Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Komintern und Krieg 1939

von Fritz Klein

Am 8. September 1939, eine Woche nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen, den die Regierungen Englands und Frankreichs mit der Kriegserklärung gegen Deutschland beantwortet hatten, erhielt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) in Prag telegraphisch ein Rundschreiben des Sekretariats des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) an die angeschlossenen Parteien: »Der gegenwärtige Krieg«, hieß es darin, »ist ein imperialistischer, ungerechter Krieg, an dem die Bourgeoisie aller kriegführenden Staaten gleich schuldig ist. In keinem Land darf weder die Arbeiterklasse, umso weniger die Kommunistische Partei, den Krieg unterstützen. Die Bourgeoisie führt den Krieg nicht gegen den Faschismus, wie es Chamberlain und die Parteiführer der Sozialdemokratie behaupten. Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Länder um die Weltherrschaft geführt. Die internationale Arbeiterklasse kann in keinem Falle das faschistische Polen verteidigen, das die Hilfe der Sowjetunion zurückgewiesen hat und die anderen Nationalitäten unterdrückt … Der Krieg hat die Lage wesentlich geändert. Die Teilung der Staaten in faschistische und demokratische hat den früheren Sinn verloren. Dementsprechend muß die Taktik geändert werden. Die Taktik der kommunistischen Parteien in allen kriegführenden Ländern ist, in diesen Ländern gegen den Krieg aufzutreten, seinen imperialistischen Charakter zu entlarven, wo kommunistische Deputierte vorhanden sind, gegen Kriegskredite zu stimmen, den Massen zu erklären, daß der Krieg ihnen nichts anderes als Last und Ruin bringen wird. In den neutralen Ländern muß man die Regierungen entlarven, die für Neutralität ihrer Länder auftreten, aber zwecks Profit den Krieg in anderen Ländern unterstützen, wie es die Regierung der Vereinigten Staaten Amerikas in bezug auf Japan und China macht. Die kommunistischen Parteien müssen überall zu einer entschiedenen Offensive gegen die verräterische Politik der Sozialdemokratie übergehen. Die kommunistischen Parteien, besonders Frankreichs, Englands, Belgiens und der Vereinigten Staaten Amerikas, welche im Gegensatz zu dieser Einstellung auftreten, müssen sofort ihre politische Linie korrigieren.«
Für diese Weisung war gewiß auch Klement Gottwald verantwortlich, Mitglied des EKKI und Generalsekretär der KPČ, deren Führung seit dem Verbot der Partei im Oktober 1938 im Moskauer Exil arbeitete. Adressat des Telegramms war der Teil der Parteiführung, der im Lande verblieben war und illegal als Zentralkomitee unter deutscher Besatzung fungierte. Die Antwort der Prager zeigte das Dilemma einer Partei, die gewohnt war, den Moskauer Weisungen zu folgen, die hier aber kraß im Widerspruch zu den nationalen Sorgen der tschechischen Kommunisten standen. Als »Stellungnahme zum Aufruf zum Kriegsausbruch«, telegraphierten sie am 10. September nach Moskau: »Der Angreifer Hitlerdeutschland. Bedeutet für uns Steigerung des Kampfes gegen Hauptfeind. Unterstützung des Kampfes gegen Hitler, aber scharfe Abgrenzung von westlicher Reaktion … für Niederlage des faschistischen Aggressors. Nieder mit imperialistischem Krieg … Alles für die Einheitsfront der Arbeiterklasse und der ganzen Nation.«
Diese offensichtliche Abweichung von der Linie des EKKI wurde in dem anschließenden Telegrammwechsel von der Kominternführung nicht direkt kritisiert; doch sie griff die Losung des Kampfes gegen Hitlerdeutschland und den Faschismus nicht auf. Ihr ging es vor allem um die »Desorientierung« durch falsche Einschätzung der westlichen Imperialisten und die Polemik gegen den im englischen Exil befindlichen Staatspräsidenten Edvard Beneš, einen »Sowjetfeind im Dienste westlicher Imperialisten«. Gemeinsam mit der deutschen und der österreichischen Arbeiterklasse sei der Kampf für nationale und soziale Befreiung, Freundschaft mit der Sowjetunion und gegen »antideutschen Chauvinismus« zu führen (Telegramm vom 16. Oktober 1939). Allen Ernstes kritisierte die Kominternführung Demonstrationen und Kampfaktionen gegen die deutsche Besatzung, die es Ende Oktober mehrfach gegeben hatte.
Das unaufhörliche Drängen der Komintern – nach der Aufteilung Polens unter Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion hatten beide Länder sich im Grenz- und Freundschaftsvertrag am 28. September verbündet – zeigte Wirkung. Am 13. Dezember berichtete das Prager ZK nach Moskau über die Beschlüsse einer kürzlich abgehaltenen Tagung. Anders als am 10. September war nun nicht mehr die Rede vom Kampf gegen den Hitlerfaschismus. Beschlossen habe man eine »Kampagne zur Einstellung des imperialistischen Krieges und Entlarvung Benešs.« Die Partei werde sich auf den Kampf für die Einheits- und Volksfront von unten, auf die Verteidigung der Tagesinteressen in Betrieben, Gewerkschaften und Genossenschaften und auf die Arbeit auf dem Lande konzentrieren. Große Schwächen zeige die Partei, die politisch und ideologisch noch nicht fest zusammengeschlossen und klar orientiert sei. Schwach sei der Kampf gegen Benesch, Chauvinismus und Reformismus. Unbeantwortet blieb im November 1939 das Telegramm der Prager: »Antwortet, warum keine Artikel Tschechoslowakei in ›Rundschau‹ und ›Welt‹ Stockholm.«
An die Öffentlichkeit gelangte der geschilderte Depeschenwechsel vor vierzig Jahren, in der Zeit des hoffnungsvollen Beginns des Prager Frühlings, als die Parteigeschichtsschreibung in der ČSSR begann, die Fesseln der Zensur abzustreifen. Unsere Darstellung folgt der Publikation in einer tschechischen Zeitschrift zur Geschichte der KPČ (Příspěvky k dějinám KSČ, Nr. 3/1967).