Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Friedrichsfelder Ansichtskarte

von Erhard Weinholz

Berlin-Lichtenberg, Hans-Loch-Viertel, Volkradstraße (1967): Ein charakterloser Himmel, teils heiter, teils bewölkt. Auf der Straße, die von links unten schräg durchs Bild führt, ist noch alles beim alten: kein Wartburg in Pontonform, kein neuer Trabant, nur die gerundeten Karosserien der Typen aus den Fünfzigern. Aber die neue Zeit ist unübersehbar da: mit dem Flachbau des Wohngebietszentrums, Passage genannt, mit dem Hochhaus rechts davon, das sich, Balkon an Balkon, siebzehn Stockwerke in die Höhe streckt. Von hier hatten im Sommer 1965 Li und Al in Jürgen Böttchers DEFA-Debüt Jahrgang ‘45 hinuntergeschaut auf die erste Großbaustelle am Rande des Berliner Ostens, die entstehenden Wohnhäuser ringsum, den Rohbau des Wohngebietszentrums an der Volkradstraße gleich nebenan. Vollenden durfte Böttcher den Film nicht, er fiel den Verdikten nach dem 11. Plenum des ZK zum Opfer und kam erst Jahrzehnte später ins Kino. Das Hochhaus hingegen ist 1967 fertig, die Passage ebenso. Weiß und blau sind ihre Wände mit Plaste verkleidet, Aluminiumprofile fassen die Flächen ein, umrahmen die Fenster. Am Fischladen, wo im grün gekachelten Becken die Karpfen schwimmen, hat man die Markisen vorgezogen. Im Durchgang links daneben, zwischen den beiden Teilen der Anlage, gleich vorn unter schrägem Dach aus Wellplaste einige Dutzend Verkaufsautomaten. Bonbons und Zigaretten hat man da wohl angeboten. Von Automatisierung, Vollautomatisierung sogar war damals oft die Rede. Am Alex gab es das Automatenrestaurant, in Moskau arbeitete die erste vollautomatische Fabrik der Welt – die kommunistische Gesellschaft war 1967, so schien es, nicht mehr allzufern.
Zwei Jahre darauf, im Herbst ‘69, war ich im Hochhaus an der Volkradstraße bei einem Studienfreund zu Besuch. Wir gingen in die Kaufhalle der Passage – das erste Mal, daß ich in einem solchen Laden einkaufte. Das Angebot kam mir großartig vor. Es dauerte eine Weile, bis ich mich in der verwirrenden Warenvielfalt der Berliner Kaufhallen zurechtfand, bis ich herausgefunden hatte, was ich tagtäglich brauchte. Viel war es nicht. Noch länger dauerte es, bis ich merkte, was fehlte.
Ortstermin 1 (Frühsommer 2000): Ich war vom S-Bahnhof Nöldnerplatz durch die Straßen südlich vom Lichtenberger Bahnhof hinübergelaufen zu den Neubauten an der Volkradstraße. Eine stille Gegend. Große Bäume zwischen den Wohnblöcken. Über den Tränkegraben hinweg kam ich an die Rückfront der Passage. Ihre Plasteflächen sind im Laufe der Jahrzehnte vergraut, die Aluminiumstreben stumpf und flekkig geworden. Der Flügel rechterhand wird wie früher genutzt, von der Bibliothek und der Apotheke. Im linken Flügel hat man viele Scheiben durch Sperrholzplatten ersetzt. Im Durchgang zwischen beiden wächst Gras in den Pflasterritzen. Irgendwann in den frühen Neunzigern war ich noch einmal in die Clubgaststätte essen gegangen. Der Betreiber war Kellner und Büffetier in einer Person. Eine alte Frau am Nachbartisch nickte gelegentlich ein und brannte mit der Zigarette Löcher in die Tischdecke. Bald darauf war hier Schluß.
Die Kaufhalle daneben, jetzt Kaiser’s zugehörig, hat sich gehalten. In einer dieser Kaiser’s-Hallen hatte ich gleich nach der Währungsunion die Fülle des neuen Angebots kennengelernt. Wieder war sie verwirrend, mehr noch als zwanzig Jahre zuvor, aber diesmal bedrückte sie mich. Es schien mir unmöglich zu sein, daß dies alles je verkauft werden würde.
Der Fischladen ist lange schon zu. Auf dem Platz davor hat ein Vietnamese seinen Gemüsestand errichtet. Durch verschmutzte Scheiben blickt man auf die Reste der Ladeneinrichtung. Völlig verschwunden sind die Automaten vorn im Durchgang, die mir erst die Ansichtskarte wieder in Erinnerung gebracht hat. Noch zu DDR-Zeiten waren ihre Fächer nicht mehr nachgefüllt, ihre Plexiglasscheiben zerschlagen worden. Irgendwann hat man die ganze Anlage entfernt, ohne daß es mir bei früheren Spaziergängen aufgefallen wäre.
Ortstermin 2 (März 2007): Diesmal fahre ich mit 194er Bus zur Volkradstraße. Die Passage hat man im Winter 2002/2003 abgerissen. An fast gleicher Stelle ist im Jahr darauf ein neues Zentrum entstanden, zwei rotbraune, flache Klinkerbauten: Rewe, Penny, Schlecker, Arztpraxen, ein Reisebüro … Für die Bibliothek hat der Platz, wie es aussieht, nicht gereicht. Auch das Brunnenbecken im einstigen Seitendurchgang nach Süden gibt es nicht mehr, die kleine Brunnenplastik ist fort. Weiter hinten auf dem Gelände stehen jetzt Wohnhäuser, der Rest ist zerfurchte Brache. Ich will mit dem nächsten 194er weiter, doch er fährt vormittags nur alle zwanzig Minuten. Eine Viertelstunde muß ich hier also noch ausharren.

Anmerkunge der Redaktion: Die Brunnenplastik wurde von einer couragierten Unternehmerin vor der Müllhalde gerettet. Heute steht die Plastik im Garten eines Altenheimes in Lichtenberg. Die Anwohner freut’s.