Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 6. August 2007, Heft 16

Lichtenbergs Kardinalfrage

von Renate Hoffmann

In Oberramstadt, seinem Geburtsort, wollte ich ihn aufsuchen, den Satiriker und Physiker, den exzellenten Stilisten und Professor der Naturwissenschaften. Den Großmeister des Aphorismus. Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Genialisch veranlagtes, achtzehntes Kind des Generalsuperintendenten, Bauenthusiasten und Kantatendichters Johann Conrad Lichtenberg.
Der Weg führte vorbei. Nach Darmstadt, zu einer der wichtigen Bildungsstationen des Knaben. Dem Pädagog. Es brauchte einige Zeit, bis ich das berühmte alte Gymnasium fand. Georg Christophs Scharfsinn begleitete meinen Findungsprozeß vortrefflich: »Ich warf allerlei Gedanken im Kopf herum, bis endlich folgender obenhin zu liegen kam«: Das Pädagog müsse wohl in der Pädagogstraße anliegend sein.
Die Hausnummer fünf gehört zu einem mächtigen, prächtigen Renaissance-Gebäude, dessen bauliche Substanz im wesentlichen aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt … Die Renaissance im Original beschränkt sich auf den vorgeschobenen Treppenturm und Mauerteile. Und auf die weitsichtige Überlegung von 1627, hier eine Bildungseinrichtung zu schaffen. Sie diente mehr als dreihundert Jahre der Wissensvermittlung. (Lichtenberg in die Moderne transponiert: »Dieses haben unsere Vorfahren aus gutem Grunde so geordnet, und wir stellen es aus gutem Grunde nun wieder ab.«)
Das Pädagog besaß besten Ruf. Man schickte Georg Christoph L. besonders seiner mathematischen Begabung wegen in diese Lehrstätte. Eine weitere Eigenschaft des Schülers kam zutage: nicht nur Genauigkeit im Denken, sondern auch klare Wiedergabe des Gedachten. In späteren Jahren sollte er den Göttinger Taschenkalender redigieren und ihn mit wissenschaftlichen und populär-philosophischen Aufsätzen bereichern, denen man »Klassische Klarheit und unübertreffliche Laune« nachsagte. Sicherlich fertigte er sie nach seinem Prinzip: »Witz und Laune müssen, wie alle korrosive Sachen, mit Sorgfalt gebraucht werden.«
Das stattliche weiße Haus mit den Doppelgiebeln ruht behäbig in der Mittagsschwüle. Aus der geöffneten Tür eines Kellerlokales weht Kühle herauf. Ich suche nach Auskünften über Lichtenbergs Schulzeit. Da sind sie – die bewährten Tafeln an der Wand. In ihren Mitteilungen knapp, jedoch aufschlußreich und überraschend.
Justus Liebig lernte sieben Jahre eifrig im Pädagog. »1845 wurde er in den Adelsstand erhoben.« Die Schultage des wißbegierigen Georg Büchner im Landesgymnasium begannen 1824 und endeten mit dem »Abitur am 30. 3. 1831.« Selbstverständlich erhielt auch Georg Christoph Lichtenberg den bleibenden Vermerk. Auf seiner Tafel gibt es zwar keine Nachrichten über besondere Umstände, doch – außer den Lebensdaten – die Anregung zu einem Gedankenspiel: »Es ist eine Frage, welches schwerer ist, zu denken oder nicht zu denken.«
Das Abwägen und Verwerfen und Bekräftigen und Inzweifelziehen beginnt. Wer nicht gleich eine schlüssige Antwort auf die knifflige Frage findet, den tröstet Lichtenberg – ebenfalls aphoristisch: »Jedermann ist wenigstens des Jahrs einmal ein Genie. Die eigentlich sogenannten Genies haben nur die guten Einfälle dichter.«