Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 6. August 2007, Heft 16

Auf dem Zauberberg

von Heinz W. Konrad

Bereist man Graubünden, dann zieht es einen, so man Thomas Mann liebt, fast magisch nach Davos. Nicht so sehr der höchstgelegenen Stadt Europas selbst wegen. Sie ist zweifellos wunderschön situiert, aber auch nicht unbedingt schöner als andere Orte in diesem größten der eidgenössischen Kantone. Ihr architektonisches Bild ist eh nichts, was das Herz erwärmt; über Jahrzehnte ist es durch die Bausünden ähnlich ausdruckslos geworden wie etwa das des unweiten St. Moritz.
Der Magnet, der den Mann-Verehrer nach Davos zu ziehen vermag, heißt Waldhotel. Jenes liegt am Hang jenes Berges, der als Zauberberg mit seinem Sanatorium Berghof in die Weltliteratur einging. Im Schweizer Wintersportdorado, das im Sommer ein wenig so wirkt, als sei es selbst im Urlaub, weilte Thomas Mann im Frühling 1912, als er seine, ihren Lungenspitzenkatarrh auskurierende, Frau Katia besuchte und in der Dependance Haus am Stein unterhalb der Klinik Quartier nahm. Was Thomas in diesen vier Wochen an Impressionen über den Ort und die Langzeitkurenden des damals noch ganz jungen Sanatoriums sammelte und was ihm Katia über die Zeit ihres halbjährigen Aufenthaltes an relevanten Neuigkeiten wie simplem Klatsch immer wieder brieflich zu berichten wußte, ist in ein literarisches Zeit- und Sittengemälde ersten Ranges eingegangen und hat dem Flecken unterhalb der Schatzalp und des Strelapasses und somit der Stadt Davos ein Denkmal gesetzt.
Indes – im Kurort selbst ist der Roman, als er 1924 erschien, alles andere als freudvoll aufgenommen worden. Vornehmlich die Ärzteschaft sah sich durch die Spitzen Thomas Manns ihre Geldgier wegen ernstlich bedroht. »Dieser Sensationsroman, ein trübes Destillat einer trüben Zeit, hat bei Ärzten und Tuberkulosekranken Schaden angerichtet, wird aber bald vergessen sein«, war sich der Davoser Tbc-Papst Turban sicher und irrte gründlich. Selbst als Manns Tochter Erika 1934 mit ihrem Kabarett Die Pfeffermühle hier gastieren wollte, versagte der Kleine Landrat mehrheitlich den Auftritt mit der Begründung, »… daß Davos der Familie des Herrn Thomas Mann keine besondere Dankespflicht schuldet, da dessen ›Zauberberg‹ durch die darin enthaltene tendenziöse Schilderung des Kurlebens zweifellos eine Schädigung des Kurortes zur Folge gehabt hat.« Lange her das alles; heute würdigt eine Stele im Kurpark voller Respekt Dichter und Werk.
Durch seine prominente Hanglage schon bei der Ortseinfahrt eigentlich unübersehbar, muß, wer den Berghof zu identifizieren sucht, heute dennoch zweimal hinschauen. Das seinerzeitige Sanatorium hat nicht nur seine Bestimmung, sondern auch sein Gesicht verändert. Ein guter Geist des Hauses, den wir per Zufall auf der städtischen Promenade an seinem Kleinbus mit dem beziehungsreichen Schriftzug Mann war hier, man ißt hier treffen, und der unserer Bitte auf Mitnahme auf den Berghang freundlich stattgibt, erweist sich als Glücksfall. Er serviert uns auf der noch morgenfrischen Terrasse nicht nur den Capuccino und versieht uns mit Informationen, er bietet uns sogar Einblicke in das jüngst renovierte Haus. Unvermutet stehen wir nach der Inaugenscheinnahme der stilvoll-edel eingerichtete Säle, Zimmer und Suiten mit ihren raumhohen Fenstern schließlich auf einem jener Balkone mit ihren noch originalen Brüstungen, auf denen Romanfiguren wie Hans Castorp, das Disputantenpaar Settembrini und Naphta, Karoline Stöhr, Mynheer Peeperkorn oder die schöne Clawdia Chauchat und ihrer aller Klinikchef, Hofrat Behrens, in die Weite des Davoser Tals geschaut und die heilsame Höhenluft der Graubündener Alpen inhaliert haben.
Viel ist indes nicht geblieben von der alten Kurklinik, aus der 1957 das Waldhotel Davos wurde, weil der Siegeszug der Antibiotika auch die Lungenheilung revolutionierte. Die heutige Oase der gehobenen Erholung widmet sich seither den Zivilisationskrankheiten der Moderne wie Stress, Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Bewegungsmangel. Nicht nur, daß ein weiteres, fünftes Stockwerk das Gebäude erhöht hat und die Fassade nun ein gediegenes, aber eben doch modern-nüchternes Antlitz präsentiert, auch im Innern sind es lediglich Zitate wie Salonnamen, Fotos und Gemälde, die an die alten Zeiten erinnern. Mit Ausnahme eines Raumes, durch dessen gläserne Tür man Einblick nehmen kann in ein original gestaltetes Patientenzimmer des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. »Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und friedlich, mit seinen weißen, praktischen Möbeln, seinen ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fußbodenbelag und den leinernen Vorhängen, die in modernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren,« hat T. M. ihr Bild überliefert; seinerzeitiger Luxus, der heute selbst Kassenpatienten irritieren würde, trüge man ihnen solch Unterbringung an.
»Das Waldhotel läuft sehr gut«, bekommen wir zu hören. Vor allem freilich im Winter, wo es in Davos ohnehin erst wirklich brummt, ist das Vier-Sterne-Superieur-Haus ausgebucht. Spätestens dann sind auch die luxuriösen Suiten, von denen jene mit dem Namen »Thomas Mann« gut ihre siebzig Quadratmeter mißt, allzeit bewohnt. Ein abendlicher Platz in ihrem mit vierzehn GaultMillau-Punkten ausgezeichneten Gourmet-Restaurant Mann und Co. ist ohne wochenlange Vorbestellung auch selbst sommers nicht zu bekommen.
So unlösbar Davos mit dem Namen Thomas Manns verknüpft ist – außer den besagten vier Wochen im Jahre 1912 und wenigen weiteren Tagen später war der Großdichter nie hier. Vielmehr waren für ihn und seine Familie das nahe Arosa und das ebenfalls nicht ferne Lenzerheide sowie das Tessiner Lugano vielbesuchte Erholungsorte. In den Jahren vor dem Schweizer Exil und auch danach traf er sich bei solchen Gelegenheiten gern und oft mit seinesgleichen, zuallererst mit jenem einen, den er sowohl als Seelenverwandten als auch Ebenbürtigen anerkannte, Hermann Hesse aus Montagnola. Der ganzen Familie Manns liebster Ort in der Schweiz war indes Sils Maria, knapp zehn Kilometer von St. Moritz entfernt. »Das Oberengadin ist der schönste Ort der Welt«, befand Thomas Mann, und selbst der schwermütige Friedrich Nietzsche, der in dem malerischen Tal des noch bescheiden wirkenden Inns sommerliche Erholung suchte, schwärmte hier: »Jetzt bin ich leicht, ich fliege.«
Hierher noch einmal zurückzukehren, war denn auch Thomas Manns dringender Wunsch, als er 1953 nach langen Exiljahren in Kalifornien seine letzte Wohnstatt am Zürcher See bezogen hatte. In seinem letzten Lebensjahr erfüllte sich dem Achtzigjährigen diese Sehnsucht. Tochter Erika, längst zu des Vaters wichtigster Mitarbeiterin und Lebensorganisatorin geworden, chauffierte ihre Eltern noch einmal ins geliebte Sils. »Zum letzten Mal: Sils, Hesses, die liebe Bergfahrt, das immer erneute Staunen und leichte Grauen angesichts der Mond- und Kraterlandschaft auf höchster Höhe, die Einkehr in Lenzerheide, – alles zum letzten Mal«, beschreibt sie das damals noch unvermutet endgültige Abschiednehmen Thomas Manns vom Engadin und von Graubünden, und bald darauf auch vom Leben selbst.
Diesen Weg vom oberen Inntal über den Julierpaß via Chur und Bodensee nun selbst nehmend, verlassen auch wir sommers 2007 die Schweiz. Und werden den Zauberberg wohl noch einmal mit anderen Augen lesen.