von Renate Hoffmann
So pflegte der Aufseher im Amsterdamer Museum Münchhausen zu nennen, wenn er das präparierte und vom Baron eingebrachte Krokodil vorführte, welches vierzig Pariser Fuß (ein pied de roi betrug 32 Zentimeter) und sieben Zoll maß … Mutig, von Geistesgegenwart, mit Ideen ausgestattet, die jedes Naturgesetz in Zweifel ziehen. So kennt man ihn, doch kennt man ihn wirklich?
Ohne Umschweife nach Bodenwerder, der kleinen Stadt an der Weser. Taufeintrag im dortigen Kirchenbuch: »Den 13. Mai 1720. Ihr Hochwohlgeborn Herr Obristleutnant von Münchhausen (hat) einen Sohn taufen lassen … Drei Namen: Hieronymus Carole Fredericus.« (Zur Welt gekommen den 11. des Monats). Austrag an nämlicher Stelle: »Herr Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, gewesener Russisch Kaiserlicher Rittmeister bei dem großfürstlichen Kürassierregiment … starb den 22. Februar 1797 des morgens kurz vor 10 Uhr am Krampf- und Schlagfluß, alt 76 Jahre 9 Monate«.
Der Baron beherrscht die Stadt. In der Fußgängerzone sprudelt ein Brunnen, der in heiteren Skulpturen gleich drei seiner Abenteuer erzählt. Das erste beginnt mit den Worten: »Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an … Ich reisete zu Pferde«. Er reisete durch die Schneelandschaft. Bei Dunkelwerden band er sein Pferd an einen vermeintlichen »Baumstaken« und legete sich auf ein »gesundes Schläfchen« in den Schnee. Der aber schmolz über Nacht. In der Frühe sah Monsieur sein Reittier am Wetterhahn eines Kirchturms hängen. Dort hatte er es festgezurrt und nicht an einem Ast, wie vermutet. Ein gezielter Schuß. Das Pferd sank herab, der Baron stieg auf – und reisete weiter nach St. Petersburg.
Daß der pfiffige Fabulierer auf der Kanonenkugel sitzt und jeden Augenblick den Abschuß erwartet, versteht sich von selbst. Das dritte Abenteuer huldigt Münchhausens Jagdleidenschaft. Ein »Landsee« mit »einigen Dutzend« Enten. In Monsieurs Flintenlauf steckt nur noch ein Schuß. Mit dem Stück Schinkenspeck aus der Jagdtasche löst er souverän das Problem. An eine lange Schnur geknüpft, wirft er es dem Wassergeflügel vor die Schnäbel. Die erste schnappt’s, bringt’s wieder raus (hinten) – die zweite schluckt’s, et cetera, et cetera … so klappt’s. Der Baron bindet sich das Schnürchen um den Bauch, und seine Beute trägt ihn flügelschlagend durch die Lüfte.
Auf dem »Münchhausenplatz«, begrünt, von alten Bäumen beschattet, präsentiert sich Monsieur erneut als Brunnenfigur. Hoch zu Roß, dessen Hinterteil fehlt.
Nicht weit von der kuriosen Wasserkunst entfernt, steht das Bodenwerdersche Rathaus, ehrwürdiger Renaissancebau, an dem eine Tafel kündet: »Geburtshaus des Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen«. Und noch ein Stück weiter lugt vom bewaldeten Hang herab ein Gartenpavillon. Sein achteckiges Obergeschoß war Ort der Geselligkeit, die Monsieur schätzte. Hier insbesondere fanden sie statt, die Erzählrunden, in denen Hieronymus brillierte. »… (er) wendet zuerst geschickt die Unterredung auf gleichgültige Gegenstände, und dann erzählt er irgendein Geschichtchen von seinen Reisen, Feldzügen und schnurrigen Abenteuern in einem ihm ganz eigentümlichen Tone«.
Er war nicht nur ein Mann, den die Phantasie in utopische Gefilde entführte. Er verstand darüber hinaus die hohe Kunst des Erzählens. Auch dieserhalb erlangte er Berühmtheit. Seine Geschichten, die eigentlich keine Lügen sind, doch wohl eher Kinder ausgeprägter Fabulierlust, wurden von ihm nie aufgeschrieben. Aber sie ließen sich, ob ihres ungewöhnlichen Hergangs wegen, vortrefflich weitererzählen.
Im Münchhausen Museum erfährt man Erstaunliches zu Person und den Münchhauseniaden, die nach ihrem Erscheinen in England (!) 1785 sofort zum Bestseller wurden. Aus der Lebensgeschichte des Barons: Pagendienst am braunschweigischen Hof in Wolfenbüttel. 1738 folgt er als junger Mann Prinz Anton Ulrich von Braunschweig nach Rußland. Dienst im Kürassierregiment des Prinzen in St. Petersburg. Beförderung zum Kornett, später zum Leutnant.1739 möglicherweise Teilnahme am russisch-türkischen Krieg (1735-1739). Stationierung in Riga. 1741 Teilnahme am schwedisch-russischen Krieg (1741-1742). Heirat mit der Kurländerin Jacobina von Dunten. 1750 Ernennung zum kaiserlich-russischen Rittmeister (Begründung: Tapferkeit, Dienstalter, Straffreiheit, Kenntnis von Lesen und Schreiben). November 1750 Rückkehr nach Bodenwerder.
Einunddreißig Jahre danach erscheinen im VADEMCUM für lustige Leute Anekdoten, die auf folgende Weise eingeführt werden: »Es lebt ein sehr witziger Kopf, Herr von M-h-s-n im H-(annöver)schen, der eine eigne Art sinnreicher Geschichten aufgebracht hat, die nach seinem Namen benannt wird«. Der Verfasser gibt sich nicht zu erkennen. Vier Jahre später (1785) kursiert beim englischen Publikum eine Broschüre: Baron Munchhausen’s Narrative of His Marvellous Travels and Compaigns in Russia. Sie ist rasch vergriffen. Autor: anonym. 1786 folgt die zweite Auflage, vermehrt um einige Sea Adventures. Diese Ausgabe gelangt auf den Kontinent, wird ins Deutsche übersetzt und – o Wonne des Einfallsreichtums – nochmals ergänzt. Durch den Ritt auf der Kanonenkugel, die Entenjagd mit dem Frühstücksspeck, die Rettung aus dem Sumpf am eigenen Zopfe und weiteres. Der Verfasser hält sich bedeckt.
Die 5. englische Auflage gibt Anlaß, die 2. deutsche Übersetzung vorzunehmen. Wiederum mit neuen »adventures« des Barons versehen. Der Ideenschwall nimmt kein Ende. Nun verrät der Titel (ohne Nennung des Schreibers) welches Vergnügen den Leser erwartet: Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen, wie er dieselben bey der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt … London 1788.
Mittlerweile erfährt Münchhausen davon und ist über die Maßen erzürnt. Will Klage erheben – doch gegen wen? Sein Verdacht richtet sich gegen die Göttinger Gelehrten Gottfried August Bürger (1747-1794) und Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Nicht grundlos – aber ohne Beweis. Erst nach Ableben aller geistigen Väter der Wunderbaren Reisen wird auch das Abenteuer des Buches geklärt.
Am Anfang steht Monsieur, der Erzähler. Wer die sechzehn Geschichten des VADEMECUMs 1781 zu Papier gab, bleibt ungewiß. Doch der Inhalt war Professor Rudolph Erich Raspe (1737-1794) bekannt, Bibliothekar und Sachwalter der landgräflichen Sammlungen in Kassel. Ein Landsmann Münchhausens; vielleicht waren sie sogar einander begegnet. Raspe floh wegen Unterschlagungen nach England.
Im Londoner Exil übersetzte er die VADEMECUM-Schwänke und verband sie zu einem kleinen Ganzen. Das englische Erfolgsbuch gelangte nach Göttingen, wo es Gottfried August Bürger, angetan von der Lektüre, zurückübertrug, und ihm Sprachstil und poetische Rundung verlieh. Beide Autoren vermieden es, ihre Urheberschaft zu gestehen. Fürchteten sie um die Ernsthaftigkeit ihres Rufes?
Im Museum sind Buchausgaben des Münchhausen von 1786 bis 2004 versammelt. Darunter viele Übersetzungen in fremde Sprachen. Illustrationen, die die Fäden seiner merkwürdigen Geschichten aufnehmen und weiterspinnen. Porträts, Dokumente, Schaustücke. Der Baron selbst empfiehlt sich – wie am Ende seiner Reisen – mit der Aufforderung: »Besuchen Sie mich alsdann, und an Unterhaltung soll es Ihnen gewiß nicht fehlen«.
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