Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 23. Juli 2007, Heft 15

Ich frage mich manchmal …

von Harald Kretzschmar

Mich fragt ja keiner, und das ist vielleicht gut so. Weil, wenn man mich fragen würde, wären meine Antworten gewiß so, daß sie fragwürdig erschienen. Obwohl ich sie sehr gern mit einem Ausrufezeichen versehen würde. Und zwar mit einem sehr persönlichen. Diese Art anderslautender Meinung stört den allgemeinen trägen Konsens. Also stelle ich kurzerhand die Fragen selbst.
Mein sehr privates Verhältnis zur politischen Geographie läßt mich beispielsweise die immer lediglich bürokratisch interpretierten föderalen Strukturen in Frage stellen. Was bestimmte Landstriche kulturell prägte und welche künstlerischen Potenzen sie hervorbrachten, ist tausendmal wichtiger als der amtlich beglaubigte Schnickschnack um Kreisgrenzen und Behördenkompetenzen. Da bin ich Radikaltraditionalist. Natur und Kultur gehen mir über alles. Deutscher Patriot bin ich ausschließlich in bezug auf unsere einzigartige Sprache.
Gesprochene Dialekte etwa sind natürliche Kunstschöpfungen. So wunderbar sie da klingen, wo sie entstehen und folgerichtig hingehören, so absurd tönen sie anderswo. Schwäbisches Gebabbel am Berliner Prenzlauer Berg ist so penetrant wie seinerzeit die sächselnde Plumpheit am gleichen Platze. Wobei die vielgescholtene, seinerzeit von Schwaben Zone und von Sachsen DDR getaufte Gegend sich im nachhinein ganz anders darstellt. Als von Umständen des Kalten Krieges verfluchtes Land war es dennoch von vielfältigster Kultur gesegnet. Wer ewig in allem und jedem nur das verhagelte und vernagelte politische System sieht, wird den Überfluß an schöpferischen Talenten nie wahrnehmen, die dem Land unverhofften Glanz und den Seinen ungeahnte Lust verschafften.
Zumal Sachsen-Thüringen mit dem schlesisch-böhmischen Umland immer schon künstlerisches Urstromtal mit außergewöhnlichen kreativen Eruptionen gewesen war. Von Luther über Bach zu Nietzsche und Richard Wagner. Von Karl May über Ringelnatz zu Erich Kästner. Zwanzigstes Jahrhundert, erste Hälfte. Der heute so hoch im Kurs stehende Westen Deutschlands war meist Empfänger, selten Geber. Literarische Innovation und musikalische Klangkultur kamen wie ein warmer Regen über ihn. Mit Städtenamen wie Dresden, Leipzig und Chemnitz, Weimar und Dessau waren Jugendstil und Werkbund, Die Brücke und das Bauhaus verbunden. Die Weiterverbreitung lief auf der Achse Berlin-Köln-München. Ständiger Transfer intellektueller Potenzen aus Ost nach West beschert jenen Blutzufuhr, und denen ein eklatantes Defizit an Selbstbewußtsein. Traurig, aber wahr. Bis heute wandern die Besten gen Westen.
Vieles wird jetzt erst ins rechte Licht gerückt. Im vorigen Jahr museal in Dresden gezeigt: Die erste Garde privater Kunstsammler in Deutschland waren Sachsen. Zur Zeit entdecken die Kunstsammlungen Chemnitz mit großem Aufwand, daß Ernst Ludwig Kirchner mit den anderen Brücke-Gründern Heckel und Schmidt-Rottluff in dieser Stadt zur Schule gegangen ist. Hört! Hört! Die Weltstars begründeten den malerischen Expressionismus dann als Dresdner Architekturstudenten. Die Insel Fehmarn kämpft vergebens um die föderale Alleinbestimmung über sie als ihre ehemaligen Badegäste. Schwerin ist erfolgreicher – das dortige staatliche Museum okkupiert weiträumig den Lionel Feininger mit seinen Seestücken als Entdecker der Küste von Mecklenburg und Pommern für die Weltkunst. Den ganzen Sommer gleich Badesaison dort und in Greifswald zu bewundern. Der kleine gesamtdeutsche Moritz soll endlich wissen, wo und wie seine liebsten Kalenderblätter entstanden sind. Damit ist die Aufklärungspflicht der offiziellen Kunstinstanzen erfüllt.
Ja, aber. Da war doch noch etwas. Vierzig Jahre Funkstille, Tiefpunkt, Ödnis? Das kann doch nicht wahr sein. Alle genannten Ausstellungen verzichten peinlich darauf, irgendeinen Bezug zu lebenden Künstlern oder Sammlern herzustellen. Innovationen der fünfziger bis neunziger Jahre auf demselben Territorium? Nie gehört. Grenzpfähle, markiert mit Hammer-Zirkel-Ährenkranz, ragen im Fleisch der Kunstszene. Nach wie vor.
So peinlich genau eingegrenzt wurde die DDR zu ihren Lebzeiten nie. Was wohl wirkt weiter in der Kunst Michael Morgners und Dagmar Ranft-Schinkes, die am selben Gymnasium Abitur machten wie die Brücke-Künstler? Die Kunstszene, zumal der siebziger und achtziger Jahre, war in jener Region unglaublich auf- und anregend – niemand erinnert daran. Künstlertemperamente wären zu entdecken, durchaus dem Erbe Feiningers und der anderen Bauhäusler verpflichtet. Begleitet von der Sammelleidenschaft von Enthusiasten. Großartige graphische Blätter warten auf Wiederentdeckung. Fast unbeachtet sterben die Macher – wie letzthin der große Leipziger Radierer Peter Sylvester.
Wie konventionell ist unser Kunstbetrieb eigentlich? Mit ganz ehrenwerten Überzeugungen agieren höchst achtbare Kenner und Kennerinnen so, daß Bewährtes bewahrt wird. Föderale Bezüge? Aber gewiß: in bezug auf längst anerkannte Personen. Marktführer dürfen durchaus im Osten Spuren hinterlassen haben. Das war es dann aber. Wir zeigen euch, wie ihr gewesen sein sollt. Die Frage bleibt: Wieso ist die Öffentlichkeit wie gelähmt? Wieso bestimmen Künstler nicht mehr selbst die Richtung? Sind sie entmündigt? Fragen über Fragen.