Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 23. Juli 2007, Heft 15

Ausgegrenzt

von Erhard Crome

Kürzlich erhielt ich einen Brief von der Firma Vattenfall. Früher war ich bei dem Berliner Elektroenergieversorger BEWAG. Den hatten die nach-wendischen, gesamtberliner schwarz-geführten Senatsgrößen verscherbelt, ohne ihre Schuldenakkumulation damit einhegen zu können. Die Berliner zahlen jetzt die Zeche, und das nicht zu knapp. Vattenfall teilte mir mit, daß sie mal wieder die Preise erhöhen, und gleichzeitig außerdem: Ich solle doch den Zählerstand ablesen und ihnen übermitteln. Ansonsten drohen sie mit einer maschinellen Berechnung. Wer weiß, welche Zusatzgebühren dort schon einprogrammiert sind? Der Auftrag an mich, den Verbraucher, bedeutet: Sie haben jetzt auch noch die Stromzählerableser gestrichen, um deren Bezahlung »einzusparen«.
Zuvor schon hatte die Berliner S-Bahn scharenweise Stationsvorsteher eingespart. Die Verantwortlichen haben zwar materiell investiert, Rolltreppen und Fahrstühle auf den Bahnhöfen einbauen lassen, aber es ist niemand da, der zu nächtlicher Stunde von Amts wegen dem Vandalismus entgegentreten könnte. Die paar durchreisenden, schlecht bezahlten privaten Sicherheitsleute wiegen den früheren Stationsvorsteher nicht auf. Inzwischen wurde auch die Zahl der S-Bahn-Fahrer reduziert. Jetzt reichen schon vierzig zusätzliche Krankmeldungen von S-Bahn-Piloten, um den Verkehr in der Stadt weitgehend lahmzulegen. Als im Januar 2007 die großen Stürme tobten, ließ Herr Mehdorn die gesamte Eisenbahn stillegen. Das gab es in Deutschland in keinem Krieg und keiner Krise; die Reichsbahn hatte immer Lokomotiven und Lokomotivführer in Reserve, um einen Mindestverkehr aufrechtzuerhalten. In den Zeiten des Neoliberalismus gibt es das nicht mehr. Herr Mehdorn hat die Reserven liquidiert, weil die sich nicht rechnen im Hinblick auf den beabsichtigten Börsengang. Die S-Bahn-Verspätungen waren seit der deutschen Vereinheitlichung noch nie so verbreitet wie heute. Das gilt auch für den Regionalverkehr in Brandenburg, obwohl die Landesregierungen erhebliche Gelder überweisen. Hier wird als Grund angegeben, die Gleise seien verschlissen. Vielleicht sollen nun die Reisenden immer vor Antritt der Fahrt ein paar Schwellen verlegen, so wie ich jetzt für Vattenfall ablese?
Die hinter den glänzenden Fassaden des derzeitigen Verkaufs-Kapitalismus stattfindende stetige Verschlechterung der Lebensbedingungen für immer mehr Menschen und die ebenso unaufhörliche Produktion von »überflüssigen« Menschen in dieser Gesellschaft sind zwei Seiten derselben Medaille. Und diese Ausgespiehenen werden dementsprechend zugerichtet. Für die Jugend findet Wettsaufen zum Festpreis statt, Kinder vegetieren in vermüllten Wohnungen, und im Zweifelsfall wird der Säugling erschlagen oder aus dem Fenster geworfen. Neben einem Wandbild an der Kulturfabrik in Cottbus steht geschrieben: »Kinder, die man nicht liebt, werden Erwachsene, die nicht lieben«.
Das aber ist eben kein individueller, sondern ein gesellschaftlicher Vorgang. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat ein Buch über die »Überflüssigen« des derzeitigen Weltkapitalismus geschrieben (Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburger Edition 2006, 196 Seiten). Neben dem materiellen Müll, der Boden, Luft und Wasser verpestet, produziert er auch menschlichen Müll, verurteilt Menschen dazu, Müll sein zu sollen, »überflüssiges«, weil aus der Kapitalverwertung herausgefallenes Leben. Der Kapitalismus braucht diese Menschen nicht und grenzt sie aus. Und sie verkommen, wenn nicht anderweitig Halt geschaffen wird. Sie sind sozial schon tot, wenn sie in »das Leben« treten, und sind es dann auch psychisch und am Ende physisch. Da mit ihnen niemand Mitleid hat, haben sie das auch nicht mit sich selbst und ihren Kindern. Die »Überflüssigen« sind Ergebnis dieser Abstiege und werden zugleich dessen Akteure.
Die Moderne, so Bauman, produzierte in den »entwickelten Ländern« seit Anbeginn einen »Bevölkerungsüberschuß«. (Wobei Bauman den Terminus »überflüssig« ausschließlich in einem sozialen Sinne versteht, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugt, nicht in physischer oder geographischer Hinsicht.) Solange diese Produktions- und Gesellschaftsweise ein Privileg weniger Länder blieb, wurden diese »überflüssigen Menschen« in andere Weltteile, die noch nicht modernisiert waren, »entsorgt«. Das war »der tiefste Sinn der Kolonialisierung und der imperialistischen Eroberungen«. Die Beschränkung der modernen Lebensweise auf einen »privilegierten« Teil des Planeten ermöglichte globale Lösungen für lokal erzeugte »Überbevölkerungs«-Probleme.
Mit dem, was heute Globalisierung geheißen wird, hat der »triumphale Fortschritt der Modernisierung« nun aber auch die entferntesten Winkel der Welt erreicht. Deshalb gibt es keine globalen Lösungen für lokal erzeugte Probleme mehr, sondern alle müssen nach lokalen Lösungen für global erzeugte Probleme suchen – und dies immer offensichtlicher vergeblich. Denn es findet eine Umkehrung des Wanderungsdrucks statt. Die globale Ausdehnung der Modernisierung hat Millionen Menschen in den Peripherie-Ländern entwurzelt, ihnen die überkommenen Lebensgrundlagen geraubt, und sie drängen nun in die Länder des Zentrums; deshalb die Alarmstimmung in EU-Europa in Sachen Einwanderer und Asylbewerber.
Im Zeitalter der Moderne war es immer der Staat, der über Chaos und Ordnung, Gesetz und Gesetzlosigkeit, Zugehörigkeit und Ausschluß entschied. So war das Aussieben und Entsorgen des »Abfalls« die eigentliche Beschäftigung des Staates. Der Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts war bemüht, sozialen Zusammenhalt herzustellen, indem er gesellschaftlich produzierte Gefahren für die individuelle und kollektive Existenz zurückzudrängen und auszuschalten suchte. Die Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaates bewirkt, daß diese Schutzfunktion nur noch auf Nicht-Arbeitsfähige und Invaliden beschränkt wird, und selbst diese kleine Gruppe wird zunehmend aus dem Bereich der Sozialfürsorge in den von Gesetz und Ordnung verschoben; die Unfähigkeit, am Spiel des Marktes weiter teilnehmen zu können, wird kriminalisiert. Doch das Ergebnis ist nicht weniger Staat, sondern lediglich ein anderer Staat, für den die Bekämpfung des »Abfalls der Globalisierung«, der Migranten, Heimatlosen und in den eigenen Ländern Ausgesonderten in den Mittelpunkt rückt. Der Bau neuer Gefängnisse, die Verschärfung der Haftstrafen, die Ausweitung der Sicherheitsgesetze sind seine Daseinsweise.
Hinzu kommt der Wandel von der Arbeitsgesellschaft zur Konsumgesellschaft. Die Arbeitslosen der Gesellschaft der Produzierenden konnten die Hoffnung hegen, Teil einer »industriellen Reservearmee« zu sein und eines Tages wieder in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können. Es gab klar formulierte »Aufnahmebedingungen und Aufenthaltserlaubnisse« in der Gesellschaft. Für die unausgefüllten Konsumenten der Konsumgesellschaft heute steht fest, daß sie keine Spieler mehr sein können, wenn sie aus dem Spiel sind. Es gibt keine deutlich markierten Rückkehrpfade mehr.
Daraus entstand eine »Kultur des Abfalls«. Vertrauen wird durch »all-umfassendes Mißtrauen« ersetzt; jegliche Bindung gilt als unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig. Verpflichtungen – seien es Arbeitsverträge oder Ehebündnisse – werden von vornherein im Hinterkopf mit einer Kündigungsoption eingegangen. Das Tempo des Wandels beschleunigt sich; was heute wünschenswert und erwünscht erscheint, ist der Abfall von morgen. Und die Furcht, selbst auf dem Abfallhaufen zu landen, verstärkt das Verlangen, noch eifriger mitzumachen an dem Wandel, der den Abfall zeugt.