Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 11. Juni 2007, Heft 12

Werte und Intervention

von Erhard Crome

Im Jahre 1492 landete Christoph Kolumbus in Amerika. Wenige Jahrzehnte später waren die Reiche der Azteken und der Inkas zerschlagen. Die eingeborene Bevölkerung wurde durch Waffengewalt und Krankheiten dezimiert. Spanische Abenteurer eigneten sich das Land an, über das System der encomienda wurden ihnen Indianer als Zwangsarbeiter für die Bewirtschaftung von Äckern und Weiden sowie von Bergwerken zugeteilt.
Der Priester und spätere Bischof Bartolomé de Las Casas (1474-1566) lehnte nach längerem Aufenthalt in Amerika dieses System ab und versuchte, Karl V. zu einer Änderung der spanischen Gesetzgebung zugunsten der indianischen Bevölkerung zu bringen. Damit schuf er sich viele Feinde, denen der Theologe Juan Ginés de Sepúlveda (1489-1573) Argumente zu liefern sich bemühte. Im Jahre 1550 versammelte der König den zuständigen Rat Consejo de las Indias in Valladolid, vor dem die beiden ihre Disputation führten.
Sepúlveda, der im Interesse der Habsburger bereits zuvor schon die Vereinbarkeit von Christentum und Krieg begründet hatte, verteidigte das kriegerische und gewalttätige Vorgehen der Spanier in Amerika. Dazu entwickelte er vier Argumente: Erstens seien die Indios »Barbaren«, ungebildet, grausam und so geartet, daß sie von anderen regiert werden müßten. Zweitens müßten sie das spanische Joch schon deshalb tragen, weil sie wegen ihrer »Verbrechen gegen das göttliche Gesetz und das Naturrecht«, derer sie sich wegen ihres Götzendienstes – weil sie eigene Götter gehabt hatten – und wegen des Gebrauchs von Menschenopfern schuldig gemacht hatten, Strafe verdient hätten. Drittens seien die Spanier durch göttliches und Naturrecht verpflichtet gewesen, dem Schaden und Unheil durch weitere Menschenopfer, die alljährlich den Götzen geopfert wurden, vorzubeugen. Viertens schließlich erleichtere die spanische Herrschaft die Christianisierung der indianischen Bevölkerung.
Der bekannte Historiker Immanuel Wallerstein verweist in seinem neuesten Buch (Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2007, 110 Seiten, 10,90 Euro) auf jenen historischen Streit und hebt hervor, daß die Argumentation Sepúlvedas die vier Hauptargumente enthalte, die bis heute benutzt werden, um Interventionen von »Zivilisierten« in »nichtzivilisierte« Gegenden der Welt zu rechtfertigen: »die Barbarei der anderen, das Unterbinden von Praktiken, die universelle Werte verletzen, die Verteidigung Unschuldiger inmitten der grausamen anderen sowie die Schaffung der Möglichkeiten, universelle Werte zu verbreiten«.
So verdient die Gegenargumentation Las Casas’ besondere Aufmerksamkeit. Zum ersten Argument, daß Menschen von Natur aus barbarisch seien, betonte er, wenn Menschen als barbarisch anzusehen seien, die sich unzivilisiert verhalten, so finde man solche in allen Teilen der Welt. Wahrhaft abscheuliches Verhalten werde bei allen Völkern sanktioniert, trete also stets nur bei einer Minderheit auf und könne daher nicht auf ganze Völker übertragen werden. Mit anderen Worten: Es gibt ein ungefähres moralisches Gleichgewicht zwischen allen sozialen Systemen und Kulturen, jedenfalls keine »natürliche« Hierarchie unter ihnen, die eine koloniale Herrschaft rechtfertigen würde. Zum zweiten argumentierte er, es gäbe auch in christlichen Ländern Juden und Muslime, die den Gesetzen des Staates gehorchen müßten, nicht aber dafür bestraft werden könnten, ihre eigenen religiösen Gesetze zu befolgen. Wenn die Kirche also schon für die nichtchristlichen Einwohner christlicher Länder nicht zuständig sei, so erst recht nicht für jene, die noch nie von ihren Lehren gehört hätten. Insofern könne Götzendienst nur von Gott beurteilt werden, nicht aber von Menschen, die einer anderen Gruppe angehören, die jenen Götzendienst nicht praktiziert.
Dabei war sich Las Casas durchaus des Problems bewußt, ihm könne angesichts der in Rede stehenden Menschenopfer bei einigen indianischen Ritualen moralischer Relativismus vorgeworfen werden. Deshalb war sein entscheidendes Argument das »Prinzip des geringsten Schadens«: Wenn denn Unschuldige befreit werden müßten, dann sollten die Schuldigen bestraft werden, nicht aber Unschuldige verletzt oder gar getötet werden – und die Spanier hatten, so Las Casas, Menschen in Amerika zu Tausenden getötet, ihre Städte und Dörfer niedergebrannt und ihr Vieh geraubt. Gegenüber dem vierten Argument von Sepúlveda machte er das Prinzip des freien Willens geltend: Die Menschen müßten durch eigene Entscheidung den Weg zu Jesus Christus finden. Krieg sei nicht der Weg, um das Christentum zu verbreiten.
Wallerstein berichtet, daß jener Rat von Valladolid keine Entscheidung getroffen habe; Sepúlveda hatte den Disput moralisch verloren, seine Auffassungen prägten aber über Jahrhunderte die spanische und – im weiteren Sinne – europäische Kolonialpolitik. Die internationale Entwicklung nach 1945, insbesondere die Entkolonialisierung brachte eine Unterminierung dieser paternalistischen Aufsicht mit sich. Mit den Menschenrechtskampagnen seit den siebziger Jahren wurde jedoch erneut geltend gemacht, es sei »Pflicht der Zivilisierten«, das Barbarentum zu unterdrücken.
Das Prinzip des geringsten Schadens, wie Las Casas es begründet hat, ist gleichsam die Übertragung des Hippokratischen Eides der Ärzte auf die internationale Politik. Wallerstein wirft den Blick auf die Kriege des Westens im früheren Jugoslawien und stellt fest, dieses Prinzip sei bereits dort sichtlich verletzt worden – erst recht durch den Irak-Krieg und den Krieg in Afghanistan. Hinzu kommt ein Punkt, den ebenfalls schon Las Casas geltend gemacht hatte: »Der moralische Anspruch der Intervenienten wird stets durch ihre materiellen Interessen, die durch die Intervention befördert werden, beeinträchtigt.« In der heutigen Welt, so Wallerstein, »werden uns die von Las Casas gepredigten skeptischen Bedenken gegenüber unserer impulsiven moralischen Arroganz einen besseren Dienst leisten als die auf Selbstinteresse beruhenden Gewißheiten der Sepúlvedas dieser Welt.«
Die »universellen Werte«, die uns immer aufgetischt werden, wenn es um die nächsten militärischen Interventionen geht oder um die Fortführung der bisherigen, sind durch die herrschenden Schichten des seit fünfhundert Jahren bestehenden Weltsystems gesellschaftlich erzeugt worden: Im 16. Jahrhundert wurden Naturrecht und Christentum bemüht, um europäische Vorherrschaft zu begründen, im 19. Jahrhundert Zivilisation und im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert Demokratie und Menschenrechte.
Immer war es ein »europäischer Universalismus« (hier bezieht Wallerstein die USA mit ein), von dem aus die »Barbarei der anderen« identifiziert wurde, um ein »Recht auf Intervention« zu begründen, das in der Tat stets eine Doktrin ist, »die den Anspruch erhebt, die Anwendung brutaler Gewalt zu rechtfertigen«. Die Alternative dazu ist nicht ein moralischer Relativismus oder ein ebenfalls kulturell daherkommender Partikularismus – nach dem Muster einer deutschen Richterin: Eine Frau, die einen Muslim heiratet, muß wissen, daß sie auch mal verprügelt werden kann –, der »nur eine verdeckte Kapitulation vor den Kräften des europäischen Universalismus und den Mächtigen der Gegenwart« ist. Die Alternative kann nur ein »universeller Universalismus« sein. An dem ist für das 21. Jahrhundert zu arbeiten.