Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 25. Juni 2007, Heft 13

Rudolf Arnheim

von Mario Keßler

Die Generation der 1933 aus Deutschland vertriebenen Linksintellektuellen verläßt uns nun. Einer ihrer wichtigen, schon in der Weimarer Republik – nicht zuletzt in der Weltbühne – wirkungsmächtigen Repräsentanten war der Filmkritiker und Kultursoziologe Rudolf Arnheim, der am 9. Juni im Alter von 102 Jahren in Ann Arbor, Michigan, starb. Zuletzt bettlägerig in einem Seniorenheim lebend, schlief er, wie seine Tochter berichtete, friedlich ein.
Rudolf Arnheim wurde am 15. Juli 1904 in Berlin als Sohn eines Klavierherstellers geboren. Er studierte Philosophie und Psychologie bei Wolfgang Köhler, Kurt Lewin und Max Wertheimer, der 1928 Erstgutachter seiner Dissertation über Experimentell-psychologische Probleme zum Ausdrucksproblem war. Schon als Student schrieb Arnheim seit 1925 erste Kritiken zu Filmen. Nach seinem Studienabschluß wurde er Kulturredakteur der Weltbühne. Für diese Zeitschrift verfaßte er etwa siebzig Filmkritiken, doch schrieb er auch zu verschiedenen Themen für das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung, darunter zum Sport als Massenphänomen. 1932 publizierte Arnheim sein erstes Buch, Film als Kunst. Darin begriff er den Film und die Fotographie als eigenständige Kunstformen und zeigte, welche Möglichkeiten der Film bei der Aneignung (und Verfremdung) der Wirklichkeit bietet.
Kurz nach Erscheinen des Buches mußte Arnheim aus Deutschland fliehen. Als Jude und Linksintellektueller war er den Nazis doppelt verhaßt. Er ging in das faschistische, doch noch nicht von Rassengesetzen beherrschte Italien, wo er zeitweilig von einem Stipendium des Völkerbundes leben konnte. Dort schrieb er sein zweites Buch: Rundfunk als Hörkunst; es erschien 1936 in London unter dem Titel Radio: The Art of Sound und machte Arnheim in der englischsprachigen Welt bekannt. 1939 mußte Arnheim auch Italien wegen der dort eingeführten antisemitischen Gesetze verlassen. Über England erreichte er 1940 die USA.
Zunächst an der New School for Social Research tätig, wurde er schließlich Professor für Psychologie am Sarah Lawrence College in Bronxville, New York. An dieser kleinen humanwissenschaftlichen Einrichtung lehrte er bis zum Alter von 64 Jahren. Zu diesem späten Zeitpunkt wurde er 1968 an die Harvard-Universität berufen. Dort unterrichtete er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1974. Danach zog er nach Ann Arbor und war bis 1984 Honorarprofessor an der University of Michigan. Arnheim war auch Präsident der American Society for Aesthetics, Gastprofessor an mehreren Universitäten und bekam sieben Ehrendoktorate verliehen. Seine wichtigsten Bücher, darunter Toward a Psychology of Art (1949); Art and Visual Perception (1954); Picasso’s Guernica (1962); Anschauliches Denken (1972) oder die in der DDR erschienene Aufsatzsammlung Zwischenrufe (1985) mit Beiträgen der Weltbühnen-Zeit dokumentieren die Breite seiner Forschungsinteressen.
»Was mich an Zeitschriften wie Die Weltbühne unwiderstehlich lockte«, schrieb Arnheim 1984, »war die Verbindung von kämpferischer Zeitkritik, gepflegter Sprachkunst und Vergnügen am Unfug im kleinen. Bei denen von uns, die den eigentlichen Kern der Gruppe ausmachten, war es schwer zu sagen, ob es uns mehr um das ging, was wir zu sagen hatten, als um das fast sinnliche Vergnügen am Sagen selber. Beides war uns ernst.« Der Weltbühnen-Kreis wollte, so Rudolf Arnheim, eine demokratische Zeitkritik in jenen Krisenjahren befördern helfen, »in denen eine nicht sehr standhafte Republik um ihr Fortbestehen kämpfte.«