Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 28. Mai 2007, Heft 11

Vom Eingeholtwerden

von Harald Kretzschmar

Die Macht des Faktischen kann manchmal übermächtig werden. Wer weiß das nicht. Im ganz privaten eigenen Leben wird man oft von plötzlichen Ereignissen oder späten, zu späten Erkenntnissen überrumpelt. Ein Trost liegt darin, daß es anderen Leuten haargenauso geht. Und wie oft wird die große Politik von bitteren Wahrheiten überrascht. Privat weiß man ja, man soll den Mund nicht zu voll nehmen. Man kann nur das unternehmen, wozu man Voraussetzungen mitbringt. Kurz – man muß sich bescheiden.
Solcherart Bescheidenheit kennt die Politik nicht. Wenn sie Geschichte schreiben läßt, will sie damit eben Geschichtspolitik machen. Das ist ihr gutes Recht, meint sie. Den rechtlichen Rahmen kann sie immer selbst zimmern. Und von sich selbst absegnen lassen. Eine vielfach beschriebene und endlos wiedergekäute Historie ist die der zwei Diktaturen. Ganz vernarrt sind selbst Leute, denen man mehr Intelligenz zutrauen würde, in diese Formulierung. Wie Castor und Pollux sind die eine und die andere totalitäre Staatsexistenz auf deutschem Boden zum Zwillingspaar unter dem Leitbegriff »Schreckensherrschaft« ernannt worden. Mit der pflichtschuldigst nachgesprochenen Fußnote »Vergleichbar, aber nicht gleichzusetzen«. Damit ist geringfügiger Relativierung hinreichend Genüge getan. Das Geschäft dessen, was dann »Bewältigung« oder »Aufarbeitung« von Vergangenheit genannt wird, ist damit markiert.
So vergeht nun kein lieber langer Tag, an dem nicht berufene und noch mehr unberufene Geschichtsexperten vom Bewältigungsgeschäft Mitteilung machen. Und zwar jeweils recht lautstark und medienwirksam. Dabei haben sich, wie gewöhnlich bei Wiederholung derselben Vokabeln, feste Riten herausgebildet. Rufen die einen »Unrechtsstaat«, kontern die anderen mit »Terrorsystem«. Auf diese Weise kommt im gegenseitig hochgeschaukelten Übertrumpfen mit Verbalinjurien die wahre demokratische Debatte zustande. So jedenfalls meinen die Debattierer. Und alle gebärden sich wie Hobby-Juristen, indem sie Gut- und Schlechtachten über echte und vermeintliche Rechtsbeugungen abgeben. Was einmal gebeugt war, darf immer weiter verbogen werden. Man suche sich als Zeitzeugen möglichst krasse Opferfälle.
Das Ziel: Verfolgung damals und Verkennung heute. Beide sollten schon Spuren hinterlassen haben. Mitleid soll in Zorn umgemünzt werden. Anrührende Schicksale? Prachtvoll. Das läßt sich vermarkten. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zählt, was Emotion macht. Welche Biographie geeignet ist und welche nicht, entscheidet die Regie.
Stichwort Regie. Das Geschichtsdrama »Zwei Diktaturen« war so schön eingefädelt. Es waren sämtliche Handlungsstränge aufs feinste geknüpft. Nun aber gerät alles zur Farce. Im ersten Akt, Nationalsozialismus genannt, ragt einsam nur noch ein Komplex, Holocaust genannt, unvermindert furchteinflößend beschämend in eine immer harmloser werdende politische Landschaft. Einst zuverlässig als Schurken geltende Figuren entpuppen sich lediglich als tragisch verstrickt. Halt gute Deutsche. Rommel, Riefenstahl, Speer, Breker, Heydrich – alle, die sie kannten, schildern sie als außergewöhnlich sympathische Charaktere. Goebbels und Göring, von Frauen vergöttert, von Männern gefürchtet. Nette Zeitzeugen schwärmen von Fachwissen und Tierliebe, Musikalität und Freundlichkeit bei fast jedem Repräsentanten des Regimes. Bisher nie beachtete Einzelheiten beweisen messerscharf: Finster dräuende Mächte brachten Bombenterror, ja, sogar Flucht und Vertreibung in geradezu mörderischen Ausmaßen übers deutsche Vaterland. Die deutsche Frau, erst verwitwet, dann geschändet, stand dennoch heldenhaft ihren Mann. Breite Zustimmung segnete bis zuletzt die einsamen Ratschlüsse des leider am Ende in den Wahnsinn getriebenen Führers. Was bleibt da am Ende von der einst so abstoßenden Diktatur?
Noch schien nichts verloren. Die ehemalig gewordene DDR stand noch als Schurkenstaat zur Verfügung. Und das, obwohl und nachdem sie gestürzt war. Aber nun wird auch ihr bislang so erfreulich miserables Ansehen ständig aufpoliert. Leider immer noch lebendige Menschen bezeugen die merkwürdigsten Dinge. Längst gesicherte Erkenntnisse, wie das Töpfen der Kleinsten durch Stasibeauftragte in den kollektivierten Kinderkrippen, werden plötzlich in Frage gestellt. Die immer als dogmatische Indoktrination eingestufte Wissensvermittlung im Schulwesen der Diktatur wird neuerdings international als beispielhaft angesehen. Immer mehr Deutsche erlauben sich den Lapsus, auf das Beiwort »ehemalig« zu verzichten, wenn sie von der DDR sprechen. Ganz so, als sei sie allgegenwärtig. Ihr sogenannter Alltag wird wieder entdeckt – über Spee, Sandmännchen und »Henne« hinaus. Die Beispiele häufen sich, da von konfessionell engagierten Mitmenschen beeidet wird, daß sie damals – anders etliche Gleichgesinnte – dennoch Abitur machen, ja promovieren und habilitieren durften. Ja, es soll inzwischen sogar prominente Bürger der alten Bundesrepublik geben, die sich wieder des warmen Händedrucks erinnern, den sie einmal mit dem schrecklichen Diktator gewechselt haben. Ohne Scham. Mit dem Ausdruck des Verzeihens.
Wenn das nicht alle Koordinaten der Feindbildermittlung durcheinanderbringt! Während der deutsche Faschismus absichtsvoll entkriminalisiert wird, zwingt bei der »zweiten deutschen Diktatur« – völlig entgegen allen Absichten – das leidige und lästige Faktische die Regie zum Überdenken von Prämissen. Eingeholt von der nackten Wahrheit, muß das Konzept überholt werden. Von der Erinnerung an Leistung und Gegenleistung, Leben und Gegenleben im kalten Krieg überwältigt, wird zu vielen Mitbürgern warm ums Herz. Kampfbegriffe schmelzen dahin. Selbst in der Linkspartei heißt die Losung wieder »Deutsche an einen Tisch«. Man denke! Der Fetisch der zweiten Diktatur auf deutschem Boden – als allseitig verwendbares Negativsymbol abserviert? Eine Welt bricht zusammen. Die Halbwelt der Halbwahrheiten.